Zurück

Reviews

Carptree: Insekt

Stil: Progressive Rock

Cover: Carptree: Insekt

Wer sich auf dieses Album einlassen will, der muss sich bewusst sein, dass er es

1. nicht so nebenbei beim Autofahren oder anderen „geilen“ Nebensächlichkeiten hört;
2. nicht nur als akustische Untermalung betrachtet, sondern als eine einzigartige Vereinigung von Text und Musik;
3. nicht hört, wenn er sich entweder mit dem Gedanken trägt, das Leben zu nehmen oder Amok (ist ja im Monat April zur absoluten „Mode“ geworden) zu laufen;
4. nicht dafür verwendet, seine „überhebliche Arroganz“ gegen alle oberflächlichen, kleingeistigen Radio- und Mainstream-Musik-Hörer zu untermauern, da diese ihn dann endgültig als weltfremden Spinner oder, aus Schäubles Sicht, höchst bedenkliches Sicherheits-Risiko ansehen werden &
5. nicht begreifen wird, dass neben den FLOWER KINGS, die immer schlapper ihre Musik feilbieten, plötzlich eine progressive schwedische Band auftaucht, welche außer den BLUMENKÖNIGEN auch locker ein paar STACHELSCHWEINBÄUME in den Schatten zu stellen vermag!

„Ein menschliches Wesen sollte in der Lage sein, eine Windel zu wechseln, eine Invasion zu planen, ein Schwein zu schlachten, ein Schiff in Bewegung zu setzen, ein Gebäude zu entwerfen, ein Sonett zu schreiben, Kontostände zu verwalten, eine Mauer zu bauen, sich einzurichten, sich seinen letzten Wunsch auszumalen, Befehle entgegen zu nehmen, Befehle zu erteilen, zu kooperieren, im Alleingang zu agieren, mathematische Lösungen zu finden, auftretende Probleme zu analysieren, Misthaufen anzulegen, Computer zu programmieren, ein schmackhaftes Gericht zu kochen, erfolgreiche Kämpfe auszufechten, tapfer in den Tod zu gehen. Diese Form der Einordnung gilt genauso für Insekten.“ (aus „Genug Zeit für die Liebe“ von Robert Heinlein)

Was geht wohl in dem Geist einer zweiköpfigen Band vor sich, wenn sie ein gänzlich weißes Blatt Papier, bedruckt mit diesem Zitat (und der Information, dass CARPTREE mit ihrem neuen Album „Insekt“ zurück sind), jedem Kritiker als „Beigabe“ zu ihrer CD und dem sehr anspruchsvoll gestalteten und mit allen Texten versehenen Booklet beifügen? Welche Absicht verbirgt sich dahinter? Was bezwecken CARL WESTHOLM & NICLAS FLINCK damit?

Aus meiner Sicht erscheint die Antwort ganz einfach: Wir sollen nicht im „gewohnten Sinne“ an dieses Album herangehen, also die Musik hören, Vergleiche herstellen und es dann empfehlen oder zerreißen. Wir sollen uns auf diese CD samt der Texte und Ideen bzw. Konzepte, die sich dahinter verbergen, einlassen. Und wir sollen uns Gedanken machen, die wir sonst wohl kaum beim Hören einer CD haben, sondern eher beim Lesen eines Buches, beim Sehen eines Filmes oder beim Spielen eines Adventure-Computer-Spiels. Und spätestens jetzt wird mir klar, dass diese „Insekten“-Kritik eine Kritik der „anderen Art“ werden muss. Also:

Mein erster Gedanke nach dem Sichten des Booklets und des Heinlein-Zitats (ohne die Musik gehört zu haben) bezog sich auf ein Computerspiel, was ich vor vielen Jahren voller Leidenschaft gespielt habe. MOJO heißt es – und der Spieler wird darin in den Körper einer Kakerlake versetzt, die mit Hilfe ihrer menschlichen Sinne zu überleben versucht. Der Kakerlaken-Blickwinkel und der menschliche Blickwinkel verschmelzen also miteinander und erzeugen aus dieser Perspektive im Grunde nur elementare Ängste, denen man (als hochintelligente Kakerlake) auszuweichen versucht. Oftmals gelingt dies nicht – wohl weil die menschliche Intelligenz jedem tierischen Instinkt hinterherhinkt.

Ganz ähnlich entwickeln sich die Geschichte und die Stimmung im neusten Werk von CARPTREE.

Mein zweiter Gedanke bezog sich auf einen Film: DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER, in dem ein psychopathischer Massenmörder in seinen Opfern Schmetterlings-Larven hinterlässt, um durch diese, sich im Entwicklungsstadium befindliche Insekten, Hinweise an die Menschen, Täter wie Opfer, Verfolgte wie Verfolger, zu geben. Einer der größten und zugleich aus psychologischer Sicht schaurigsten Filme der gegenwärtigen Cinema-Kunst.

Ganz ähnlich gilt dies aus musikalischer Sicht auch für das „Insekt“ von CARPTREE.

Mein dritter Gedanke rankte sich dann um ein Buch der Weltliteratur, das selbst von Schülern im Unterricht noch mit einer gehörigen Portion von Spannung und Hochachtung aufgenommen wird: DIE VERWANDLUNG von FRANZ KAFKA. Darin erwacht Gregor Samsa eines Morgens in seinem Bett und muss feststellen, dass er sich in einen riesigen, abstoßenden Käfer verwandelt hat. Samsa, bis dahin von seinen Mitmenschen geachtet und anerkannt, wird plötzlich durch seine äußere Verwandlung verabscheut und gehasst, um am Ende die mit ihm bis dahin verbundenen Personen durch seinen Tod zu befreien.

Ganz ähnlich ist auch die Situation, die in den „Insekt“-Texten von NICLAS FLINCK zum Ausdruck kommt.

Vielleicht sieht sich sogar CARPTREE in einer Situation wie ihr „Insekt“, nachdem sie durch „Superhero“ und „Man Made Machine“ sehr ambitionierte und mit jeder Menge guten Kritiken bedachte Alben veröffentlichten, die ihnen sogar einen Deal bei InsideOut bescherten, der dann trotz ausgezeichneter Musik-Qualität wieder von dem immer stärker nur wirtschaftlich denkenden Unternehmen gelöst wurde. Aus meiner Sicht sehr verwunderlich, wenn man einfach nur bedenkt, dass dieser BAUM des KARPFENS qualitativ und musikalisch nicht weit von dem des STACHELSCHWEINS entfernt steht. Oder hat diese Karpfen-Anspielung im Bandnamen sogar etwas mit einem gewissen Herrn FIS©H zu tun, an den der Hörer sich oft erinnert fühlt, wenn er den beeindruckenden, absolut gefühlvollen Gesang vernimmt, der die oft düster-pessimistischen Texte bis zur Perfektion intoniert?

„Perfektion“ – das ist so ein Substantiv, das mir als Kritiker sehr schwer über die Lippen bzw. über die Tasten anschlagenden Finger geht. Doch bei „Insekt“ ist das anders. Hier haben zwei Perfektionisten, das kann man bei jeder Note hören, in jedem lyrischen Text lesen, ein Album geschaffen, welches den Hörer provoziert. Schon der „abstoßende“ Titel provoziert, die „schaurige“ Gestaltung des Booklets ebenfalls – und Musik plus Text sowieso. Denn wer setzt heutzutage schon gern die Grauen des Alltags, die zu einer Art von innerem Exil führen, auf einer CD um – und hält sich musikalisch wie textlich genau an dieses Thema? Wer webt um sich ein Kokon, der immer dicker wird und einem am Ende einschließt und die Luft nimmt – aber trotzdem als letzte Rettung vor den äußeren Gefahren erscheint? Wer verzichtet auf poserhafte, die Vorstellungen eines Zielpublikums bedienende Klänge, um ganz in dieser fast autistischen Thematik aufzugehen? – CARPTREE!!!

Mit „Taxonomic Days“ beginnt schon das erste Problem. Oder wer weiß, was ein Taxon ist? Nicht nachschlagen – hier kommt die Antwort: es ist eine Gruppe von Organismen, die sich durch ihre gemeinsamen Merkmal völlig beschreiben und dadurch auch ohne weiteres von anderen Gruppen abgrenzen lässt. Und so erfolgt schon im ersten Titel die Gleichsetzung der Verhaltensformen eines Insekts mit denen eines, sich von der oberflächlichen Allgemeinheit absetzenden Menschen, der so eine Art Schutz-Kokon gegen die allgemein verbreitete Blödheit und Willkürlichkeit um sich webt. Und die musikalische Untermalung dieses Vorgangs bewegt sich zwischen zart angeschlagenem Piano-Spiel und zerbrechlichem „FISHartigen“ Gesang bis hin zu schweren, metallischen Gitarren und fetten Keyboard-Kaskaden – mein Gott, das passt!

Und ab dem „Kartoffelbrei-Berg-Mann“ wird die Musik ruhiger, düsterer, verhaltener. Eine beängstigende Atmosphäre baut sich auf, die voller symphonischer und mitunter neo-progressiver Musik ihre unglaubliche Intensität aufbaut. So, wie sich das „menschliche Insekt“ langsam in einen Autisten verwandelt, der sich abkehrt, zurückzieht, sich einpuppt, um dem alltäglichen Wahnsinn der „zivilisierten Welt“ zu entfliehen – wendet sich auch die Musik von all den immer wieder gehörten Schemen ab. Für mich bleibt da nur ein Vergleich, ein gewagter, aber keinesfalls unberechtigter: Dieses Album klingt für mich wie die Fortsetzung eines der epochalsten Alben der progressiven Rockmusik: „THE LAMB LIES DOWN ON BROADWAY“ von GENESIS.

Ein Album also, dem man sich als Hörer, wenn man sich einmal intensiv darauf eingelassen hat, einfach nicht mehr entziehen kann. Und wie es sich für ein wirklich gutes Album gehört, wartet „Insekt“ auch mit einer „Großen Überraschung“ auf. Denn ab dem vorletzten Titel vollzieht sich eine musikalische und textliche Wandlung. Was man nicht für möglich hält geschieht: plötzlich rockt die Scheibe los und bläst die düstere Stimmung von dannen. Das Insekt im Manne oder der Mann im Insekt befreit sich, schlägt Alarm „schiebt die dunklen Wolken davon“ und „zerreißt seine Ketten und schüttelt die Last von sich“, um das „Leben im Halbschlaf“, das einem „Alptraum“ glich, zu beenden und aus den dunklen Schatten der Vergangenheit hervorzutreten. Die Lösung für solche Verwandlung liegt auf der Hand (oder dem Fühler) und ist so einfach und banal, dass man sich fast dafür schämt, nicht eher diesen Weg beschritten zu haben. „Wehrt euch gegen den Druck und Stress, den Andere auf euch ausüben, und der so irgendwann für einen selbst unerträglich wird.“ – das ist die Botschaft, die „Stressless“ verbreitet. Und die klingt ganz ähnlich wie der eine oder andere Titel eines ROGER WATERS.

„Es ist so einfach / Wenn du all die großen Dinge hinter dir lässt / Und dich auf die Kleinigkeiten konzentrierst / Sie werden dadurch zu etwas ganz Großem für dich werden.“ („Stressless“)

Genauso ging es mir mit dem Album „Insekt“ von CARPTREE.

FAZIT: Was DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER für den Film, MOJO für den Computer und DIE VERWANDLUNG von FRANZ KAFKA für die Literatur ist, das sollte „Insekt“ von CARPTREE für die Musik sein.

Punkte: 14/15

Erschienen auf www.musikreviews.de am 01.02.2008

Tracklist

  1. Taxonomic Days
  2. Mashed Potato Mountain Man
  3. The Secret
  4. Pressure
  5. Sliding Down A Slippery Slope
  6. My Index Finger
  7. Slow Corrosion Of Character
  8. Evening Sadness
  9. Where Your Thoughts Move With Ease
  10. Big Surprise
  11. Stressless

Besetzung

  • Bass

    Ulf Edelönn, Stefan Fandén

  • Gesang

    Niclas Flinck

  • Gitarre

    Ulf Edelönn, Stefan Fandén

  • Keys

    Carl Westholm

  • Schlagzeug

    Jejo Perkovic

  • Sonstiges

    Carl Westholm (Melodica, Vocoder, Cymbals), Jonas Waldefeld (Tambourine/Percussion), Trollhättan Chamber Choir

Sonstiges

  • Label

    Fosfor Creation / Just For Kicks

  • Spieldauer

    65:15

  • Erscheinungsdatum

    2007

© Musikreviews.de