Na endlich! Endlich mal eine Band, die verstanden hat, was den Kern eines guten Songs ausmacht: grandiose Melodien! Die knallen einem VANISHING POINT nur so um die Ohren, ein Killer-Hook nach dem anderen. Den Begriff ”Progressive” kann man dabei getrost (fast) vergessen. Zwar ist die Band sicherlich technisch versiert, deutet dies auch vereinzelt an und gestaltet die Songs immer interessant und abwechslungsreich. Aber der Gesang und die griffigen Refrains stehen ganz klar im Vordergrund, und selbst die Gitarrenmelodien werden meist sehr eingängig gestaltet, klingen mitreißend und lösen oft Gänsehaut aus. Die Band traut sich, Melodien einfach ”nur” wunderschön sein zu lassen und sieht keinen Zwang zu verkopften Arrangements. Warum einen tollen Part abändern, nur weil er manch einem vielleicht zu eingängig oder zu harmonisch klingen mag? Für meinen Geschmack macht die Band auf ihrem vierten Album alles richtig. Sicher, wer hauptsächlich technische Kabinettstückchen hören will, oder wer es unbedingt aggressiv haben muss, wird mit diesem Material vielleicht weniger anfangen können. Aber wer beispielsweise "Parallels" für eins der besten Alben von FATES WARNING hält, oder die letzten drei, vier Veröffentlichungen von THRESHOLD oder EVERGREY vor allem wegen ihrer tollen Melodien hoch schätzt, der wird "The Fourth Season" lieben. Dies ist nicht unbedingt ein stilistisch immer passender Vergleich. Was jedoch die Hitdichte und die Fokussierung auf griffige Songs und einprägsame Gesangsmelodien innerhalb des Genres angeht, braucht man sich vor diesen großen Namen keinesfalls zu verstecken.
Mit dem schnellen "Embodiment" gelingt VANISHING POINT gleich ein sehr starker und unglaublich mitreißender Einstieg in das Album. Auch das folgende "Tyranny Of Distance" weiß mit einem eingängigen Refrain zu gefallen, erstaunlicherweise hält sich die Band aber melodietechnisch beim Eröffnungsdoppel noch etwas zurück, zumindest verglichen mit dem, was den Hörer später noch erwartet. Im Normalfall würde man solch einen Auftakt schon ausgiebig lobpreisen. Man kann ja nicht ahnen, dass dies erst der Anfang einer ganzen Reihe von Höhepunkten ist. Insgesamt setzt man zu Beginn noch etwas mehr auf vertracktes Riffing und progressive Strukturen.
Aber dann startet die Band richtig durch: "Surrender" ist der erste Hit, den man nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Ein stampfender Groover mit einem echten Bombastrefrain, packende Melodien und wunderschöne Harmoniegesänge. Doch es geht sogar noch besser, mit "Hope Among The Heartless" folgt vielleicht der Übersong des Albums, ein absoluter Mega-Hit! Schon der Einstieg mit hymnischen Gitarrenharmonien löst Gänsehaut aus, und wenn der treibende Refrain folgt, muss man einfach aus voller Kraft mitsingen.
Man meint fast, keinen Eigenkompositionen, sondern Metal-Versionen von Achtziger-Pop-Hymnen zu lauschen, so fräsen sich die herrlichen Harmonien in die Gehörgänge. Dieser Eindruck kommt auch im weiteren Verlauf des Albums immer wieder auf, vielleicht auch zum Teil Verdienst der Keyboards, die meist symphonische Hintergrundbegleitung leisten. Allerdings wirken VANISHING POINT dabei nie altbacken, flach oder kitschig, sondern klingen immer nach zeitgemäßem, melodischem Metal mit Anspruch und Tiefgang.
Sänger Silvio Massaro brilliert mit tollen, einschmeichelnden Harmonien. Sein sehr angenehmes, warmes Timbre erinnert manchmal etwas an Daniel Gildenlöw (PAIN OF SALVATION), wenn dieser nicht gerade schauspielert und völlig abdreht, sondern auf eingängige Melodien setzt.
Wer jetzt denkt, VANISHING POINT könnten das Niveau nicht halten, sieht sich getäuscht. Es folgt ein mitreißender Track nach dem anderen, fast ausschließlich überragende Refrains mit Hook-Garantie. Der dezente Prog-Faktor sorgt für genügend Abwechslung innerhalb der Songs, immer wieder variiert man geschickt oder baut kurze Zwischenparts und kleine Details ein, so dass trotz extremer Eingängigkeit auch nach zahllosen Durchläufen keine Langeweile aufkommt.
Das bombastische "Gaia" mit wunderschönen Klavierläufen und Gitarrenharmonien dient als Intro für "I Within I”. Stakkato-Riffs treffen auf epische Atmosphäre, und ich kann mich nur wiederholen: was für Melodien, was für ein Refrain! "Behind the Open Door", etwas härter und riff-betonter, steht dem in nichts nach, der nächste perfekt arrangierte Hit, den man sich genau wie die anderen Songs auch ideal in einer Live-Situation vorstellen könnte. Diese Songs knallen ohne Ende und können schon beim ersten Hören völlig überzeugen und mitreißen. Auch ein mit dem Material nicht vertrautes Publikum dürfte alle Melodien sofort mitsingen wollen. Es fällt auch auf, wie perfekt die Gitarristen ihre Parts ausgearbeitet und abgestimmt haben, jederzeit songdienlich, doch immer voller interessanter Details und dabei selbst immer wieder für einprägsame Momente sorgend. Manchmal kann man sich gar nicht entscheiden, ob man nun die herrlichen Gesangsmelodien oder die genauso mitreißenden Gitarrenparts mitsummen sollte. "Ashen Sky" klingt dann etwas düsterer und bietet neben aggressiven Strophen einen flotten Refrain, in den eine wunderbar melancholische Bridge einleitet. Andere Bands wären froh, solch einen Part einmal als Refrain zur Verfügung zu haben.
Erst mit Track Nummer 9 gewähren VANISHING POINT eine kleine Verschnaufpause, entspannte Klavier- und Gitarrenpassagen und ein Fretless Bass leiten "A Foot In Both Worlds" ein. Auch wenn härtere Parts sich immer wieder mit ruhigeren abwechseln, ist der Songs insgesamt etwas zurückhaltender als die übrigen und bietet trotz schöner Melodien nicht solche immensen Hitqualitäten. Trotzdem ein reizvoller Track und eine willkommene Abwechslung, bevor mit "Wake Me" der nächste Kracher folgt, und man erneut, getragen von hymnischen Melodien, davon fliegt . Das ruhige "A Day In Difference" lässt das Album anschließend mit gefühlvollem Gesang und Sprachsamples wunderbar atmosphärisch ausklingen. Und man möchte direkt den nächsten Durchlauf starten.
FAZIT: Für mich ist “The Fourth Season” ein Meisterwerk der ganz großen Melodien. Nahezu perfekt arrangierte Songs, unglaublich treffsichere Hooklines und einprägsame Refrains, bei denen sich selbst der härteste Metaller begeistert mitsingend wiederfindet. Wer anspruchsvollen und kraftvollen Metal mit Tiefgang hören möchte, aber trotzdem Eingängigkeit und großen Gefühlen jederzeit den Vorzug vor übertriebener Technik und Aggressivität gibt, muss dieses Album hören und wird es lieben!
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 02.02.2008
Adrian Alimic
Silvio Massaro
Tommy Vucur, Chris Porcianko
Christian Nativo
Dockyard 1
49:07
2007