Mit „The Crucible Of Man“ veröffentlichen ICED EARTH eigentlich „nur“ den zweiten Teil des „Something Wicked“-Konzepts, komponiert und teilweise aufgenommen zur gleichen Zeit wie der Vorgänger „Framing Armageddon“. Für die meisten Fans dürfte jedoch viel interessanter sein, dass dies das erste Album (nach der vorab veröffentlichten Single „I Walk Among You“) mit dem zurückgekehrten Matt Barlow am Mikro darstellt. Eines vorweg: Er knüpft nahtlos an seine letzten Aufnahmen mit der Band an, als hätte er nie aufgehört, professionell Musik zu machen. Im Gegenteil, er liefert sogar seine vielseitigste Gesangsleistung bisher ab und zeigt das ganze Spektrum seiner Stimme.
Da die Kontinuität des Konzepts durch den Sängerwechsel nicht mehr erhalten werden konnte, wurde diesmal auf die bereits geplanten Zwischensequenzen verzichtet. Interessanterweise führt das jedoch nicht dazu, dass das Album direkter auf den Punkt kommt oder zugänglicher wird. Stattdessen wirkt „The Crucible Of Man“ oft gar nicht wie ein Album einzelner Songs, sondern wie ein großes Stück Musik. Ähnlich wie auch schon auf „Night Of The Stormrider“ leitet oft ein Lied in das andere über, oder zwei Tracks bilden eigentlich einen längeren Song, so dass ein sehr schöner Fluss entsteht. Einzige Ausnahme bildet der abrupte Übergang in das psychedelisch angehauchte „A Gift Or A Curse?“, hier scheint tatsächlich ein Zwischenstück zu fehlen. Auch atmosphärisch erinnert „The Crucible Of Man“ stellenweise an das zweite Album von ICED EARTH, so hat Jon Schaffer z.B. mit „In Sacred Flames“ endlich ein Intro mit einem echten Chor umsetzen können, wie er sich das schon für „Angels Holocaust“ vorgestellt hatte.
Musikalisch geht es jedoch, trotz erfolgreicher Integration des alten Sängers, keineswegs zurück, stattdessen wird konsequent der bereits mit dem ersten Teil eingeschlagene Weg verfolgt (zumal beide Alben ja größtenteils gemeinsam entstanden sind). So ist dann auch der erste Eindruck etwas ernüchternd. Man muss wohl einfach langsam akzeptieren, dass sich Jon Schaffers Songwriting-Stil in eine andere Richtung entwickelt hat. Er komponiert heuzutage weder so furios riffend, dynamisch und abwechslungsreich wie noch zu Anfangszeiten, noch so eingängig und Hit-orientiert wie auf „The Dark Saga“ und „Something Wicked This Way Comes“. Stattdessen sind die meisten Songs deutlich getragener, überlegter und ausgefeilter arrangiert. Auch die Gesangslinien, und vor allem die Refrains, werden meist sehr langgezogen gesungen, dafür mit zahlreichen Harmonien angereichert. Dadurch wirken die Songs oft zunächst behäbiger und weniger mitreißend. Nach dem ersten Durchgang fragt man sich dann auch tatsächlich, ob das nun schon alles war. Zunächst erscheint der Vorgänger im direkten Vergleich stärker, zumal dieser u.a. mit „Ten Thousand Strong“ einen echten Hit hatte und große Dramen wie „Retribution Through The Ages“ aufbot. Zwar gibt es mit „Come What May“ den epischen Abschlusstrack, ansonsten drängt sich zunächst aber kaum etwas auf.
Dies ändert sich jedoch mit jedem weiteren Durchlauf, das Album wächst langsam, aber stetig. Viele der zunächst behäbig wirkenden Melodien entfalten sich erst nach und nach. Dann kann man sich diese aber besonders gut in der Live-Situation vorstellen, obwohl sie beim ersten Hören eher unspektakulär wirken. Auf dem ersten Teil war z.B. „A Charge To Keep“ ein solcher Fall, nun sind es Hymnen wie „Crown Of The Fallen“ oder „I Walk Alone“. Und das schnellere, eingängige „Divide And Devour“ entpuppt sich sogar als eine Art Nachfolger von „Ten Thousand Strong“.
Doch auch die anderen Songs bieten oft mehr, als der erste Eindruck vermuten lässt. So wirkt „Crucify The King“ in den Anfangsminuten wie ein typischer, schleppender Stampfer mit Shout-Refrain, bekommt aber in der zweiten Hälfte wunderschöne Gitarrenharmonien und einen dramatisch gesungenen Bombast-Part verpasst. Matt Barlow kann bei „Harbinger Of Fate“ seine ganze Stärke ausspielen, dieser Track hätte auch gut auf eines der früheren Alben mit ihm gepasst. Ruhige, emotional gesungene Strophen werden von einem kraftvollen Refrain abgelöst. „Sacrificial Kingdoms“ begeistert mit dem typischen, orientalisch angehauchten Riffing von Jon Schaffer und einem großen Refrain.
FAZIT: „The Crucible Of Man“ drängt sich nicht auf, bietet keine offensichtlichen Hits, entfaltet jedoch nach und nach seinen Reiz, wenn man dem Album eine Chance gibt. Einige Songs haben sogar das Potential, sich zu richtigen Live-Favoriten zu entwickeln. Ansonsten muss man den zweiten Teil des „Something Wicked“-Konzepts noch mehr als den Vorgänger im Gesamtbild und als Einheit betrachten.
Punkte: 10/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 16.10.2008
Freddie Vidales
Matt Barlow
Jon Schaffer, Troy Seele
Brent Smedley
SPV
59:09
05.09.2008