Da ist sie wieder – unsere göttliche Bartspitze, der himmlische NEAL, völlig live und total auf Gottes-Droge. Der tiefgläubige Exhibitionist, der so gut Gitarre und Keyboard spielen, ebenso gut singen und total beschissene Texte schreiben kann. Ein Mann für alle Fälle, wenn’s darum geht, ähnlich zu klingen, wie’s einstmals unter seiner Regie SPOCK’S BEARD taten und außerdem immer als geläuterter Heiliger das Kreuz vor sich her tragend, um seine manchmal auch ungläubigen Fans schwer daran tragen zu lassen.
Wenn ich mir heute so NEAL MORSE anhöre, komme ich mir mitunter vor wie Jesus Christus, der sein Kreuz zur eigenen Kreuzigung auf dem Rücken schleppt, um dann nach vollbrachter „Annagelung“ im Stile von MONTY PYTHON „Always look on the bright side of life!“ zu singen. Also manchmal ist das alles schon lustig, aber manchmal einfach auch nur todtraurig.
Nach dem ganz ähnlichen Live-Album „Testimony“ darf man sich nun also auf die Live-Ausgabe von „?“ freuen – oder besser doch darüber ärgern (Es kommt eben immer auf den Blick- oder Hörwinkel an!). Dabei hat unser NEAL für seine Auftritte zumindest eine neue Strategie entwickelt, die sich aber ausschließlich auf die Besetzung seiner musikalischen Mitstreiter, die er in den Berliner „Columbia Club“ mitbringt, bezieht. Denn es sind nicht seine amerikanischen Kollegen, die ihm beim Einspielen des Studio-Albums unterstützten, sondern (mir zumindest) gänzlich unbekannte holländische Musiker, die da am 14. Juli 2006 auf der Bühne stehen, wodurch wir erstmalig auch erleben dürfen, wie es klingt, wenn sich männliche (nicht immer perfekte) Vokalakrobatik mit weiblicher (JESSICA KOOMEN) vereinigt. Nach anfänglichen Schwierigkeiten richtig gut! Auch erbringen die Instrumentalisten definitiv den Beweis, dass nicht nur hervorragender Käse aus Holland kommt, sondern man auch locker wie eine holländische Ausgabe von SPOCK’S BEARD klingen kann.
Und damit ist auch klar, dass sich konzeptionell nichts an der Musik ändert. SPOCK’S BEARD trifft auf Gott und verwendet als sein musikalisches Sprachrohr NEAL MORSE. Also: Progressiver Rock mit ausufernden solistischen Einlagen, der manchmal ungewohnt hart, oftmals aber auch ruhig-verträumt oder extrem bombastisch und ganz selten ein wenig jazzig klingt.
Übrigens habe ich seit Ewigkeiten über folgendes Problem nachgegrübelt: „An wen erinnert dich diese Stimme des ehemaligen BARTES eigentlich?“ – schon seit den guten, alten Spock’s Beard Zeiten ließ mir das keine Ruhe – und plötzlich ist sie da (und zwar genau nach dem Titel „Help Me / The Spirit And The Flesh“), auch meine Erleuchtung, die Erleuchtung des ungläubigen, aber sich an seine Kindheit erinnernden Kritikers … und sie heißt: (Ach, ich trau’s mir kaum zu sagen bzw. zu schreiben!) NEIL DIAMOND.
Und während ich zum x-ten Male auf dieser Scheibe Neils, Quatsch, ich meinte natürlich NEALS Worte „Oh, Lord, help me!“ gehört habe, kann ich mich von folgender Vorstellung kaum befreien: Gott sitzt also auf seinem Wölkchen und lässt die Beine baumeln, ganz ähnlich wie das schon die CRASH TEST DUMMIES in „God Shuffled His Feet“ besungen haben, und denkt darüber nach, wie er mit Neals Flehen umgehen soll – und es bleibt ihm nur eine Frage, die er immer wieder laut unserem Neal zuruft, ohne allerdings so richtig von ihm verstanden zu werden: „WOBEI???“
Es ist tatsächlich ein großes Glück, dass auf unserer Seite für Live-Alben keine Punkte vergeben werden, denn sonnst hätte ich vor einem unsäglichen Problem gestanden und mir wären nach langem Grübeln folgende Gedanken durch den Kopf gegangen: Wie bewerte ich diese Live-Scheibe? Sehn wir’s mal pragmatisch durch die (zum Glück noch unbebrillten) Pauker-Augen und wählen als Grundlage das komplizierte Bewertungssystem am Gymnasium: Für das Predigen zwischen den einzelnen Titeln gibt’s erst einmal 0 Punkte – für die Texte, die manchmal sogar ein wenig Poesie in sich bergen, aber total beschissen, weil blind gläubig mit Holzhammer-Argumenten, sind, gibt’s 1 Punkt und für die Musik, weil sie noch eine ganze Menge von SPOCK’S BEARD hat und außerdem von völlig unbekannten Musikern überzeugend eingespielt wird, gibt’s 10 Punkte. Und da die Musik das wichtigste ist, zählt dieser Wert natürlich doppelt – und so komme ich Summa Summarum auf insgesamt 7 Punkte – und ob mir das unser NEAL nun übel nimmt oder mich Gott deswegen an seiner Himmelspforte ablehnt … mehr geht absolut nicht.
Erstes FAZIT: „? – Live“, ein Live-Album, das so nicht besser hätte heißen können. Ein zum Fragezeichen gewordener Musiker nimmt ein fragwürdiges Album auf, erst als Studio-, dann als Live-Version und wirft es in seiner ausufernden Massenproduktion als Fließband-Musiker unters Volk – als Strafe für all diejenigen, die Musik nicht nur zum Hören nutzen, sondern sich auch als Sammler verstehen und alles von einem Musiker besitzen müssen, den sie irgendwann mal für gut befunden haben. Ein Album also für ehemalige Freunde von SPOCK’S BEARD und göttliche Freunde von NEAL MORSE, die ihrer Sammlerleidenschaft erliegen.
Zweites FAZIT: ??????????????????????????????????????????????????????????????????????????
Fragt Gott!
Erschienen auf www.musikreviews.de am 17.02.2008
Wilco van Esschoten
Neal Morse, Jessica Koomen, Elisa Krijgsman, Wilco van Esschoten
Neal Morse, Elisa Krijgsman
Neal Morse, Henk Doest, Jessica Koomen
Colin Leijenaar
Radiant Records / Mascot Records
137:57
19.11.2007