Neal Morse spielt Punk. 18 Stücke in 36 Minuten. Kein Wort über Jesus, und wie dolle lieb er ihn hat. Statt dessen sozialkritische Texte, die gesellschaftlich relevante Themen poetisch und scharf analysieren. Seine Band verspielt sich mehrfach, schafft aber eine überzeugende, mitreißende Atmosphäre, die über gelegentliche instrumentale Schwächen hinwegsehen lässt. Die unbekannten Musiker musizieren mit Leib, Seele und Feuer im Leib und bringen jedes Stück genau auf den Punkt. Klar ist das Album nicht besonders lang, aber es macht so viel Spaß, das man am Ende angelangt, sofort wieder die Repeat-Taste drückt.
Dann das Erwachen: Nur wenig verwundert reibt man sich die schlaftrunkenen Äugelchen und konstatiert, dass natürlich genau das Gegenteil der oben geschriebenen Rezension zutrifft, und alles beim Alten geblieben ist. Das Universum Morse steht still und sonnt sich im Glanz seines eigenen erleuchteten Selbst.
FAZIT: Wie sollte es anders sein: "Lifeline" ist wieder virtuos und ausufernd geworden, teilweise legt’s an Härte zu, und ist zudem kein Konzeptwerk. Mag sein, dass Morse zu vergangenen Spock’s Beard-Großtaten aufschließt – ob „Snow“ jetzt deren Meisterwerk ist, sei mal dahingestellt. Ich behaupte immer noch: Besser als auf dem Debüt „The Light“ waren sie selten -, all das, womit "Lifeline" aufwartet, gibt es bereits, warum also marginal bessere oder schlechtere Variationen des Ewiggleichen immer und immer wieder durchnudeln? Und wenn Neal im eröffnenden Titelstück zum x-ten Mal jubiliert, das Jesus seine Lebenslinie sei, dann kann man zustimmen oder auch nicht, nervig ist diese Holzhammer-Lyrik in jedem Fall, und zeigt letztlich, warum missionarischer Eifer so gerne ins Gegenteil umschlägt. Die anschließende fürchterlich schnulzige Ballade mit dem unglaublich einfallsreichen Titel (Can’t Find) „My Way Home“ ist ein Kotzbrocken erster Güte.
Natürlich hat „Lifeline“ wieder seine Momente, ist vom instrumentalen Können seiner Protagonisten (u.a. Mike Portnoy und Randy George) her beeindruckend, und bleibt trotz allem ein aufgeblasenes Nichts. Man könnte es durchaus schätzen, wenn es textlich überzeugender wäre, und vor allem so und in ähnlicher Form nicht im Morse’schen Restaurant „Zum Guten Hirten“ schon mehrfach serviert worden wäre. Wieder der fragende Blick nach oben: Morse wollte doch sachte auftreten im Musikbusiness, lieber seiner Spiritualität frönen und den Herrgott einen guten Mann sein lassen?
Stattdessen steht nach dem ausufernden Live-Gebräu „Sola Scriptura And Beyond“ erneut ein mehr als einstündiges Studio-Output an, das irgendwann auch den geneigtesten Hörer ratlos zurücklassen dürfte. Na gut, „Leviathan“ ist ein starkes Stück, das vielleicht einen kleinen Wink birgt, wo sich ein musikalischer Ausweg aus dieser progressiven Heilspampe finden ließe, und auch der Longtrack „So Many Roads“ hat seine Meriten (Songs wie diese beiden machen es so schwer, Morse komplett in die Ecke des verdienten Vergessens zu schicken). Ansonsten gilt wie zuvor: Wer noch nie ein Neal-Morse-Album gehört und Spaß an derart progressivem Bombast hat, kann auch mit „Lifeline“ den Weg in Neals kleine Welt antreten. So schwer es fällt, die Texte kann man überhören, und in all dem Geschwalle lässt sich locker und leicht ein behagliches Plätzchen finden. Wir, die wir die meisten Spock’s Beard und Neal Morse-Solo Alben kennen, wenden uns indes ab und weinen bitterlich über diese offensichtliche Vergeudung von Talent und Können.
Fans (mit Hang zu charismatischen Gottesdiensten) können zur Bewertung satte 5 Punkte addieren, Menschen mit Spaß an Veränderung, neuen Ideen und konstruktivem Wahnsinn ziehen jene 5 Punkte ebenso satt und mit freudiger Überzeugung ab.
Für ganz Wagemutige wird es auch eine Special Edition mit Bonus-CD geben, auf der Morse und seine Freunde Cover-Versionen spielen. Über deren Qualität gibt es leider nichts zu sagen, da die Zusatz-CD nicht vorlag.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 12.09.2008
Randy George
Neal Morse
Neal Morse, Paul Bielatowicz
Neal Morse
Mike Portnoy
Jim Hoke, Jonathan Williams
InsideOut/SPV
69:49
01.10.2008