Warum nur müssen es immer die Künstler, besonders wohl auch Musiker, auf den Punkt bringen, an welchen Ecken und Enden es im Lande und auf dieser Welt stinkt?
Aber aus welchem Grunde hören wohl diejenigen, die innerhalb dieser Kloaken entscheidende Verantwortung tragen, nicht auf die Signale der Künstler?
Vielleicht weil sie sich längst bequem in diesem Mief eingerichtet haben und denken, durch das Schönreden können sie weiter auf Kosten armer Hunde, die sich nicht wehren können, wie z.B. der missbrauchten Natur, die sich dann brutal auf Kosten (leider nur) der noch ärmeren Hunde wehrt und der gutgläubigen Einfaltspinsel, die die Schuld immer nur bei den Anderen suchen, leben!
Na, über welchen menschlichen Abschaum schrieb ich da gerade? Nein, nein – nicht über DIE Politiker, sondern über DIE selbstverliebten Selbstdarsteller, die sich auf dem Podium der Politik, der Wirtschaft und des „Big Business“ breit machen, um bei der nächsten Millionärsmesse in Bayern ihre wahre Gesinnung zu zeigen und tatsächlich daran glauben, dass nicht der Mensch, sondern ausschließlich der Markt und das Großkapital, über Wohl und Verderb eines Landes entscheidet! Rettet ruhig weiter mit euren euch von den Bürgern eines Landes zur Verfügung gestellten Milliarden die Banken und Börsen dieser Welt, um eines Tages festzustellen, dass man von Geld und Aktienkursen nicht satt wird, während gerade das letzte Bäumchen seine Blätter verliert und es keinen Eisberg mehr gibt, auf den die Titanic auflaufen kann – aber stattdessen diese Welt längst zur Titanic geworden ist.
Na ja, so viele philosophische Gedanken seien mir mal ausnahmsweise erlaubt, aber nur, weil das hier meine 100. Kritik für diese Seiten ist (und die Aussage der hier besprochenen CD ganz ähnlich lautet!) – und ich deshalb bei PAUL VINCENT angefragt habe, das Album besprechen zu dürfen. Ihr seht, dieses runde, silbern glänzende, durchlöcherte Teil, das vor 26 Jahren nur als schwarze, mit einer Rille pro Seite versehene, aber ebenfalls durchlöcherte Variante erhältlich war, hat irgendwie eine besondere Bedeutung für mich, die allerdings nicht nur positive Seiten aufzuweisen hat.
Was sollen nur solche Philosophien am Anfang einer Kritik zu einem Album, das vor etwa 26 Jahren entstanden ist und nun in einer sehr liebevoll überarbeiteten Neuauflage vor mir liegt? Schon der Untertitel zu „Sternreiter“ gibt darüber Aufschluss: „Eine phantastische Reise ans Ende der Zeit“. Doch bevor wir uns auf diese Reise begeben, sollten wir nicht nur dem silbernen Scheibchen die entsprechende Aufmerksamkeit schenken, sondern auch einem Paar Augen, das uns voller Entsetzen aus einer rechteckigen Luke entgegenstarrt. Genau vermag ich es nicht zu sagen, wie oft mich diese entsetzt dreinblickenden Augen vom „Sternreiter“-Cover anblicken mussten, bis ich hypnotisiert davon dem Wunsch nicht mehr ausweichen konnte, dieses Album unbedingt zu besitzen. Ja, lieber Paul, es war wirklich clever, mit einer ganzseitigen Werbung im „Eclipsed“ auf deine CD mit diesem Bild hinzuweisen – und ein ganz besonderer Dank sollte wohl auch ERICH VIRCH gelten, der diesen Ausschnitt aus einem seiner Gemälde zur Verfügung stellte. Vielleicht aber werde ich als Kritiker am Ende genauso entsetzt auf das Ergebnis meiner Auseinandersetzung mit diesem Album schauen? Werden auch mir die Schweißtropfen übers Gesicht laufen oder schaue ich hoffnungsvoll und zutiefst befriedigt drein?
Schlüpfen wir also schnell in unseren Musik-Raumanzug aus Bässen, Posaunen, Streichinstrumenten, Gitarren, Keyboards, Sängern, Hörnern, Flöten, Saxophonen, Trompeten, Schlagzeugen und ein paar Münchner Philharmonikern. Begeben wir uns gemeinsam mit PAUL VINCENT auf die Reise zu noch unentdeckten Himmelskörpern.
Aber Vorsicht! Ein erster Komet kommt uns nicht besonders vorurteilsfreien Prog-Kosmonauten bereits frontal entgegen: der Vorurteil-Komet namens Sprache – denn die darf vorgeblich nur englisch erklingen. Nichts da von wegen in der eigenen Muttersprache zu singen. Sowas geht doch nicht, das ist doch unprogressiv.
Ach ja, darüber konnte ich als ehemaliger (K)Ossi schon immer herzlich lachen. Für mich und all die anderen ihrer musikalischen Ostmentalität beraubten Leidensgenossen wäre progressive Rockmusik solcher wundervollen Ex-DDR-Bands, wie STERN-COMBO MEISSEN, LIFT & ELECTRA, ohne deutsche Texte gar nicht denkbar. Auch wenn der Eine oder die Andere behaupten, hier wäre extremer Pathos verbraten worden, so irren die. Wir paar systemkritischen Ost-Musik-Fanatiker verstanden jedes (staatsfeindliche) Wort, das zwischen den Zeilen versteckt worden war und allein so eine geniale Idee der STERN-COMBO MEISSEN, in einem Land, in dem man das Wort Freiheit nicht öffentlich aussprechen durfte, einfach die FINLANDIA von SIBELIUS, die ja den Untertitel „Symphonische Freiheitsdichtung“ trägt, zu adaptieren, ließ uns etwas mehr von dem spüren, was uns die Mauer in unserem kommunistischen Freiluftknast bis dahin nahm. Und dass dann sogar noch ein Text von NORBERT JÄGER zu diesem (eigentlich) klassischen Instrumentalwerk hinzugefügt wurde, der neben all seinem Pathos tatsächlich einmal das Adjektiv „frei“ und einmal das Substantiv „Freiheit“ enthielt, rief den glatten Revoluzzer in jedem von uns hervor. Ihr ollen Wessis hattet eure 68er, wir zwangskommunismisierten (Ist das nicht ein schöner Neologismus?) Ossis dagegen die STERN-COMBO MEISSEN samt ihrer „feindlichen“ Finlandia ;-)
Machen wir’s/ich kurz: Wie viel Idiotie ist eigentlich erforderlich, um sich nach wie vor an eine so unglaublich blöde Behauptung zu klammern, dass die einzig klingende Sprache die englische sei und der Prog-Rock aus diesem Grunde auch nur in ihr seine verbale Entfaltung erhalten darf. Stattdessen akzeptiert man lieber einen gruselig klingenden, akzentuierten Singsang eines Herrn BORNEMANN von ELOY … aber bitte auf keinen Fall wohl klingende muttersprachliche Poesie … da ist uns anglistisch klingender Scheißdreck viel, viel lieber. Vielleicht kommt irgendwann ein Prog-Kritiker-Papst auf die FIXE (Schaut einfach mal auf den „Babyblauen Seiten“ nach.) Idee, dass man progressive Rockmusik nur noch summen darf. Bei all der Scheiße, die textlich manchmal in dieser, „unserer“ Sparte verzapft wird, wäre das sogar eine durchaus interessante Idee.
Wenigstens stellt sich PAUL VINCENT auf „Sternreiter“ diesem Kometen mit aller Gewalt entgegen, nur leider ist auch die Form seiner Poesie nicht immer die beste. Die inhaltliche Absicht, größtenteils angelehnt an KUBRICKs „2001 – A Space Odyssey“, geht klar, die lyrische Umsetzung holpert leider manchmal sogar durch einige Peinlichkeiten, wie „Sind’s deiner Seufzer Wehen, / die mir die Segel blähen?“ (Furzt da irgendwer in weiße Tücher?). Trotzdem ist die Idee gut, ein progressives Konzeptalbum mit der Kombination aus deutschen und englischen Texten zu verwirklichen, das die Geschichte eines Astronauten erzählt, der sich mit seinem Raumschiff auf die Suche nach einer neuen Energiequelle macht und dabei in die totale Abhängigkeit seines Bordcomputers gerät, der ihn aus seiner anfänglichen Euphorie in totale Angstzustände versetzt, die bis zur Schizophrenie des Kosmonauten führen. Damit wäre dann wohl auch der entsetzte Blick, der uns vom Cover her anstarrt, erklärt.
Ungewöhnlich viele, halbwegs bemerkenswerte Konzept-Alben aus deutschen Landen scheint’s ja nicht zu geben. Aus der Vergangenheit fallen mir als absolutes Highlight „Weißes Gold“ (mit deutschen Texten über die Entstehung des Porzellans) von der STERN-COMBO MEISSEN, „Rockpommel’s Land“ von GROBSCHNITT, „Spartacus“ von TRIUMVIRAT und „Ocean“ von ELOY ein. Gegenwärtig wären wohl besonders „Posthumous Silence“ von SYLVAN und ganz aktuell „Die andere Seite“ von TRAUMHAUS hervorzuheben. Dass „Sternreiter“ bisher in diesem Umfeld noch keinerlei Beachtung fand, kommt großem Frevel gleich. Welch Glück also, dass VINCENT den konsequenten Schritt ging, dieses seit langer Zeit in Vergessenheit geratene Album unter seinem eigenen Label „Luxus-Musik“ (Wie konnte man nur auf solch einen Fuzzi-Namen kommen, der im krassen Gegensatz zum Konzept von „Sternreiter“ steht?) zu veröffentlichen. Genehmigen wir uns also den „Luxus“, die musikalischen Perlen darauf nicht vor die Säue zu werfen, sondern ihnen einen kritischen Feinschliff zu verpassen.
Betreten wir das klingende Raumschiff der „Mission Sternreiter“ auf der Reise durch die Höhen und (Un-)Tiefen des musikalischen Universums von Klassik bis zu Neuer Deutscher Welle. Ja, ja – der verehrte Leser dieser Kritik (Wenn er bis hierher noch durchgehalten hat!) liest genau richtig. Von allem ist etwas dabei in diesem Süppchen, das neben schmackhaften Zutaten auch einige Pfefferkörner und Nelken versteckt hält, die, wenn man darauf beißt, einem gehörig auf die Geschmacksrezeptoren schlagen.
Ganz typisch dafür ist bereits der erste Titel, der den Hörer in seinen Anfangsmomenten verblüfft noch einmal nach dem Cover greifen lässt, um nachzuschauen, ob da statt Paul Vincent ALAN PARSONS PROJECT drauf steht. Doch voller Schwung wird dieser Eindruck mit Bläsern und einer floydigen Gitarre brutal vernichtet, um sogleich den nächsten Schwenk vorzunehmen, diesmal hin zu einem Thema, welches man einem älteren JAMES BOND Film hätte entnehmen können, das wiederum durch einen etwas schrecklichen, an die Neue Deutsche Welle erinnernden Refrain eingeleitet wurde. Fixsterne und Sternschnuppen begegnen sich, treffen aufeinander – wobei einige verglühen, während andere so richtig aufleuchten. Übrigens singt hier auch ein gewisser DAVID HANSELMANN, der damals wohl noch nicht ahnen konnte, dass er sich später mal sein Brot durch eine gesangliche Hintergrundsleistung bei PUR verdienen würde. Glückwunsch, Herr Hanselmann!
JEAN SIBELIUS steht daraufhin beim „Sonnenaufgang“, nach einem vom Computer gesprochenen Zarathustra-Zitat, den klassischen Streichern Pate. Woran erinnert uns das nur – natürlich an die STERN-COMBO MEISSEN und „Finlandia“ – so schließt sich der Kreis von Richtung Ost nach Richtung West oder umgekehrt.
Begeisterung macht sich breit, während Prometheus dann dem Sonnengott mit seiner Fackel ein Fünkchen klaut, um damit die Menschen mit dem Feuer und die Götter mit der Arschkarte zu beglücken, die sich das natürlich nicht bieten lassen wollen. Sie schicken ihm nämlich FRED ASTAIRE & GINGER ROGERS auf den Hals (Die beiden sind tatsächlich von Paul Vincent als Inspiration für den Titel angegeben worden!), damit sie ihm den „Segen der Venus“ überbringen: schmalzig und theatralisch, aber irgendwie doch romantisch und schön, auch ohne jeglichen Stepp-Schritt.
Jetzt aber passiert ein Wunder – ich kann nicht genau sagen, wie es zustande kam, aber ich lasse mich von meinem Eindruck nicht abbringen, so viele Nachrichten auch der Merkur versenden mag. Hier heißt seine Botschaft: „No Bomb“. Kaum zu glauben, aber es gab in der DDR eine Band, die sich BERLUC nannte und zu (fast) genau der gleich klingenden Musik im selben Jahr, in dem auch „Sternreiter“ erschien (1982), einen Liedbeitrag für das „Festival des politischen Liedes“ (Ja, so ’ne jämmerliche Scheiße gab’s tatsächlich im Inneren des eingemauerten Deutschlands!) ablieferte, der einem verbalen Verbrechen gleich kam und im Refrain „No Bomb, No Radioactivity, No Bomb, Never Eurochima!“ seine „wahre“ Vollendung fand. Ja, ja – wir standen uns damals schon so nahe, wir Ossis und Wessis, ohne es zu ahnen. Ich sage nur: „No Bomb!“ und verrate auch noch, dass der größte Hit von BERLUC „Hallo Erde, hier ist Alpha“ heißt und aus der Perspektive eines (russischen) Kosmonauten gesungen wird!
Und wer das alles weiß, der tanzt dann auch ganz locker nach RICHARD STRAUSS einen Wiener Walzer mit „Jupiter“! Harmonie pur, aber fast ein wenig übertrieben. Doch die größte Übertreibung steht uns noch bevor, nämlich wenn ein völlig anderer RICHARD Einfluss auf das „Erwachen des Mars“ hat, indem aus „Tristan und Isolde“ eine Operettenarie des Hitler-Lieblings WAGNER geträllert wird. Das ist gewöhnungsbedürftig – aber so viel Bedürftigkeit habe ich einfach nicht nötig. Frau Merkel würde das bestimmt ganz anders sehen, obwohl die auch ein Ex-Ossi ist, zum Glück aber nur mit weißen, doch keinesfalls braunen Flecken in ihrer Biographie.
Viel schöner ist da schon, wenn im „Garten des Saturns“ die Möwe Jonathan, die NEIL DIAMOND in einer der schönsten Filmmusiken zum Leben erweckte, zur Landung ansetzt, nachdem der Kosmonaut zuvor durch die Erkenntnis, dass der Computer die totale Macht über ihn ergriffen hat und dies auf ZAPPAeske Weise zum Ausdruck bringt, in den Wahnsinn getrieben wurde. ADIEMUS bläst dann schnell noch „Das ewige Licht“ aus und wir beenden eine fantastische Musik-Reise ans Ende der Zeit, auf welcher uns der Klang-Kosmonaut VINCENT begleitete. Vielen Dank dafür!
FAZIT: Vertraue den Augen auf dem Cover und du ahnst, was dich erwarten könnte. Am Ende aber weißt du, dass diese Erwartungen … (Bitte durch den Leser zu vervollständigen, der angeregt durch meine Kritik, zum Musik-„Sternreiter“ wurde!)
PS: Das war sie also, meine 100. Kritik für diese wundervollen Seiten. Irgendwie wollte ich schon, dass sie einen gewissen historischen Anstrich erhält. Und nach gut 14 Tagen Arbeit, bis ich mit dem, was hier so zu lesen ist, zufrieden war, stand eins fest: auch wenn diese Kritik nicht unbedingt Geschichte schreibt, so wird sie wenigstens von der überholt! Diese Kritik wurde nämlich begonnen, bevor in Amerika gewählt wurde. Diese Kritik wurde beendet, nachdem die Wahl in Amerika entschieden war. Es ist an der Zeit, wieder zu hoffen!
Punkte: 11/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 13.11.2008
Mick Brehmen, Gerard Carbonell, Günther Gebauer
Paul Vincent Gunia, Mono Gunia, David Hanselmann, Wolle Kriwanek
Paul Vincent Gunia
Paul Vincent Gunia, Andy Baum, Max Greger jr., Kristian Schulze, Herrmann Weindorf
Martin Harrison, Edgar O. Schulz
Herrmann Breuer (Posaune), James Polivka (Trompete), Giuseppe Solera (Flöte, Klarinette, Horn & Saxofon), Fritz Staab (Horn), Mitglieder der Münchener Philharmoniker
BELL Records / Luxus Musik
44:28
24.10.2008