Das Besondere im Leben sind wohl die unerwarteten Zufälle. Das gilt manchmal für Musiker genauso wie für Kritiker.
Zufall Nummer 1 ist der Kritikerzufall. Als ich das erste Mal in „Embrace The Fool“ hineinhörte, musste ich von der Atmosphäre und Instrumentierung her an die späteren Werke von DEAD CAN DANCE, wie beispielsweise „Spiritchaser“, denken. Also holte ich dieses Album mal wieder aus meinem CD-Regal, hörte es an und fühlte mich in meinem Eindruck bestätigt. Zufall?!?! Und ich hoffe sehr, man glaubt mir, dass ich vorher nur die Musik der POETS TO THEIR BELOVED gehört hatte, ohne irgendwelche Hintergründe zu den Musikern erfahren zu haben.
Zufall Nummer 2 ist der Musikerzufall. Die Geschichte der „liebenden Poeten“ beginnt in Irland bei einem BRENDAN PERRY Workshop, ohne den es die POETS TO THEIR BELOVED nie gegeben hätte. Ja – und dieser BRENDAN PERRY ist gemeinsam mit LISA GERRARD der Kopf, welcher sich hinter DEAD CAN DANCE verbirgt. Doch während sich beim „tanzenden Tod“ ein Engländer mit einer Australierin vereinigte, haben wir es auch bei den POETS TO THEIR BELOVED mit einer multikulturellen Vereinigung zwischen dem musikalischen starken und schwachen Geschlecht zu tun.
SASKIA SCHIBORR, eine Deutsche, und MARCEL DOMMISSE, ein Holländer, trafen sich 2003 auf der grünen Insel beim „tanzenden Todeskopf“, wo sich auf ihrer einsamen Suche nach neuen musikalischen Einflüssen ihre bis dato getrennten Wege kreuzen sollten. Hier also lag die Geburtsstunde von „Embrace The Fool“.
Und damit wären wir auch schon bei einem Schlüssel-Song des Albums, der nicht nur seiner Entstehung wegen, sondern auch in seiner musikalischen Umsetzung sehr interessant ist. „Love“ war anfangs ein Instrumentaltitel, den der Holländer für seine Deutsche komponierte und einspielte, nachdem die beiden ihre verträumt-wundervolle grüne Insel wieder in die jeweilige Richtung ihres unterkühlten Heimatlandes verlassen hatten. Doch schon kurze Zeit später kehrte zwar nicht Saskia, dafür aber der Titel „Love“ wieder nach Holland zurück, allerdings mit einem Text versehen und sogar eingesungen. Hier lag der Beginn einer musikalischen Verbindung – in gewisser Weise eine Kombination aus Liebe und Tod. Das lässt natürlich einiges erwarten.
Betrachtet man dazu das Booklet genauer, werden die Stimmungen der Musik bereits durch das Fotomotiv vorweggenommen. Marcel & Saskia führen den Hörer durch einen düsteren Wald ihrer musikalischen Seelen, in denen sich ein optimistischer Lichtstrahl durch die Wipfel der Bäume seinen Weg bahnt. Er verleiht dem schattigen Pfad neues Leben – genauso wie die Musik auf „Embrace The Fool“ diesem romantisch-melancholischen Bild eine klangliche Farbe verleiht.
Aber auch die Anordnung der Titel sagt einiges über das Album aus. Besondere Beachtung finden dabei solche Themen wie Trennung, Melancholie oder alte Traditionen. Sofort weiß der aufmerksame Hörer, wohin die Reise geht ... ein ekstatischer Tanz, der von einer melancholischen Ode gezähmt wird, die in einem goldenen Käfig voller Leidenschaft ihr Ende findet, wo man seine ewige Seelenfreundschaft begießt, um dann in seinen Träumen zu ertrinken, damit man sich am Ende auf die Reise zu den Sternen macht. Solche Narren muss man einfach umarmen!
Bereits beim ersten Hören macht sich eine gewisse Verwunderung über die außergewöhnliche Stimme von SASKIA SCHIBORR breit, die in ihrer warmen, dunklen Klangvielfalt unglaubliche Assoziationen zulässt. Einen Moment lang glaubt der Hörer an die Reinkarnation einer NICO, deren (nicht Seele, sondern) Stimme aus dem Grab gestiegen ist, dann wiederum spürt man den zärtlichen Hauch einer SALLY OLDFIELD oder das deutlich rauchigere Timbre einer MARIANNE FAITHFULL. Ich sagte es schon: Unglaublich!
Übrigens hatte ich vor langer Zeit einen ähnlichen Aha-Moment, nämlich als ich die Sängerin von THIS MORTAL COIL hörte. Auch die Musik dieser leider viel zu unbeachtet gebliebenen Band weist deutliche Ähnlichkeiten zu dem deutsch-holländischen Musikprojekt auf. Besonders diejenigen unter uns, die nicht voller Entsetzen, sondern mit Neugier als ehemalige Fans von DEEP PURPLE feststellten, dass deren Gitarrist plötzlich mit seiner großen Liebe mittelalterliche Ausflüge in die musikalische Nacht unternahm, sind hier bestens aufgehoben!
Das ist eben Musik für Schöngeister ohne diese schrecklichen Todesvisionen, die uns so einige Sarg-Penner unter dem Begriff „Gothic“ als die satanische Erleuchtung verkaufen wollen. Stattdessen kommen bei den Zeilen „Please hold me / Please kiss me / Please kill me“ (Ode On Melancholy) doch eher Erinnerungen an einen ganz anderen großen Poeten und sein Meisterwerk auf: HERMANN HESSEs „Steppenwolf“.
Der einzige Wermutstropfen bei „Embrace The Fool“ besteht in seiner melancholischen Grundstimmung. Es passiert einfach zu wenig in der Musik, so schön sie auch sein mag, so verträumt sie auch klingt, so gefühlvoll sie auch die Düsternis musikalisch umrahmt – sie ist wie die brennende Kerze in einem stockfinsteren, zu wenig belüfteten Raum, dem sie zwar eine sanfte Atmosphäre verleiht, aber manchmal könnte sie einfach etwas mehr flackern!
FAZIT: Wenn in einer Blackmore’s Night sich die Dichter an ihre geliebten Musen wenden, dann lassen sie die Toten wieder tanzen, um am Ende in den musikalischen Tiefen eines im herbstlichen Wald liegenden, von den letzten Sonnenstrahlen beschienenen Sees Arm in Arm mit all den Narren zu versinken, die noch immer die glänzende Schönheit melancholischer Musik der scheinheiligen „Schönheit“ materiellen Reichtums vorziehen. (Das war Poesie ;-) Ein Hoch auf alle tanzenden Poeten und toten Geliebten, auf alle poetischen Tänzer und geliebten Toten! (Das war konkret! Oder?)
Punkte: 9/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 07.10.2008
Marcel Dommisse
Saskia Schiborr, Marcel Dommisse
Marcel Dommisse
Marcel Dommisse, Saskia Schiborr
Van Herpes (Violine und Cello), Marcel Dommisse & Saskia Schiborr (Percussion und Hammered Dulcimer)
EQM Music (Equilibrium Music)
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28.09.2008