„Relayer“!?!? Das war doch dieses Kultalbum von YES, in dem man zuerst die „Tore seines Deliriums“ (The Gates Of Delirium) durchquerte, um im Alkohol-und-Musik-trunkenen Zustand mit einem „Klangwunder“ (Sound Chaser) nachzuspülen, bis alles „vorbei“ (To Be Over) war. Das absolute Kult-Album der symphonischen Ausnahme-Progband aus dem Jahre 1974.
Da liegt der Verdacht nahe, dass eine Band, die sich wie dieses Album nennt, ganz ähnlich wie das schon ECHOES, SEASONS END oder MUSIAL BOX taten, um fast genauso wie ihre Titelnamensgeber zu klingen, als geklonte YES-Variante durchs Musikuniversum stolpern muss. Weit gefehlt!
Die amerikanische Band gleichen Namens, die nun schon fast 20 Jahre mit einigen längeren Unterbrechungen Musik macht, und es auf sage und schreibe vier Studio-Alben gebracht hat, von denen ihr letztes 9 Jahre zurück liegt, hat mit YES nur eins gemeinsam: sie macht anspruchsvolle, qualitativ sehr gute Musik … klingt aber zu kaum einem Zeitpunkt wie YES oder gar nach Retro-Prog.
Musikalische Vielfalt hat oberste Priorität. Bereits bei „The Last Man On Earth“ (1999) wusste keiner so recht, woran man mit dieser Musik war. Melodischer Rock, der auch mal in neoprogressiven Schönklang ausuferte, um dann über einen Country-Umweg bis zum PORCUPINE TREE zu gelangen, wäre vielleicht eine halbwegs passende Beschreibung. So musste er wohl aussehen, der Weg, den der letzte Mensch auf der Erde beschritt.
Neun Jahre später hat dieser Weg kaum noch etwas mit der Vergangenheit zu tun, sondern plötzlich steht man vor einer überdimensionalen Hochhaus-Fassade, in der sich jegliche Form von (musikalischem) Leben nur so tummelt. Man sollte sich dabei also keinesfalls von dem wirklich hässlichen Cover mit einem sich in den Fenstern des Hochhauses widerspiegelnden Baumes abschrecken lassen. Denn die Musik ist so lebendig wie das, was sich wohl hinter diesen Fenstern abspielt und wie die 13 unterschiedlichen Schriftarten (für jeden Titel eine andere) auf der Rückseite der Hülle.
„Slipstream“ beginnt melodisch rockend mit einem leicht an späte PINK FLOYD erinnernden Refrain, ein paar YES-Gitarreklängen und inbrünstig von JOHN SAHAGIAN gesungenem Text, um dann mit einem Mal völlig überraschend nach 4:40 Minuten umzukippen. So als hätten sich plötzlich ROBERT FRIPP & BRIAN ENO in das Stück eingeschlichen, um ihr Album „No Pussyfooting“ neu einzuspielen. Nach 6:50 Minuten ist der Zauber dann vorbei, aber immer wieder im Verlaufe des Albums tauchen diese atmosphärischen, „frippschen“ Momente auf. Überhaupt hat der Hörer manchmal den Eindruck, dass TIM LA ROI einen Gitarrenkurs bei Mr. FRIPP belegt hätte, um hier als hochinteressante Beigabe die Ergebnisse dieses Ereignisses in „Facade“ einfließen zu lassen. Mir als altem Freund von KING CRIMSON und auch den seltsamen ROBERT FRIPP Solo-Ambient-Geschichten macht das unglaublichen Spaß. Man muss eben nicht FRIPP heißen um „Frippertronics“ spielen zu können.
Genauso wenig wie man FREDDY MERCURY heißen muss, um bei „My Damn Self“ wie QUEEN zu klingen oder unter Starkstrom stehen, wenn man seinen Titel „Hope In Fairy Tales“ wie „Highway To Hell“ beginnen lässt, obwohl der musikalische Rest dann überhaupt nichts mehr mit AC/DC zu tun hat.
Ich weiß gar nicht, wie viele unterschiedliche Musik-Fenster ich noch in dieser Hochhaus-Fassade öffnen könnte, sondern nur, dass sich hinter jedem eine Überraschung verbirgt und selbst der einzige Instrumentaltitel „Parabola“ einen im Sinne des LIQUID TENSION EXPERIMENTS umhaut. Das ist kein Prog, aber trotzdem total progressiv, also fortschrittlich, das ist keine Liedermacher-Mucke, aber trotzdem ein mit sehr anspruchsvollen Texten, die konzeptionell die Entfremdung in solchen Hochauswüsten zum Inhalt haben, versehenes Album.
Manchmal ist die ständige Abwechslung dann auch des Guten zuviel. „For Future Days“ beispielsweise beginnt als eine Ballade im Stil von SIMON & GARFUNKEL, um dann in etwas bombastische Rockereien abzurutschen, die an BON JOVI erinnern. Das passt nicht so richtig, auch wenn’s wirklich gut gemeint ist. Und mit „Mid Day Moon“ setzt man dann dieses Spielchen gleich noch fort. Hier kommen Bedenken auf, ob RELAYER plötzlich die Ideen ausgegangen sind, doch „Parabola“ bläst diese Gedanken dann mit einem instrumentalen Paukenschlag von dannen.
Zwar habe ich nie auf dieses Album gewartet. Aber trotzdem hat sich aus Sicht von RELAYER die Wartezeit auf so ein Album wahrhaft gelohnt.
FAZIT: Es ist immer wieder überraschend, was für interessante Musik aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten und der Barack-Obama-Hoffnung kommt. Musik, die ein progressives Umfeld bedient, aber auf gelungene Melodien und Wohlklang genauso achtet wie auf Abwechslung und textlichen Anspruch. Um in Amerika zu bleiben, fallen mir als Vergleich zu dieser Musik eigentlich nur zwei Bands ein: LITTLE ATLAS und IZZ.
Punkte: 11/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 14.08.2008
Tom Burke
John Sahagian, Bill Kiser, Tim La Roi, Tom Burke
Tim La Roi, Tom Burke, John Sahagian
John Sahagian, Tim La Roi, Tom Burke
Bill Kiser
Eigenvertrieb/Just For Kicks
64:52
01.08.2008