In jeder Rock-Disco schlägt irgendwann die Stunde, in der am laufenden Band nur noch Klassiker aufgelegt werden. „Whole Lotta Love“, „TNT“, „Smoke on the Water“... und natürlich „Epic“, einer der größten Hits einer Band, die es zwar finanziell nie gegen ihren Seelenverwandten RED HOT CHILI PEPPERS aufnehmen konnte, dafür aber künstlerisch bereits fest auf dem Thron des 90er Jahre Crossovers sitzen: FAITH NO MORE.
Im Mainstream sind sie durch ihre Single, dem Lionel Richie-Cover „Easy“, bekannt geworden. Doch bereits mit ihrem ´89er Album „The Real Thing“ trafen sie direkt in die Fan-Herzen der gerade im Entstehen begriffenen Indie/Alternative-Szene. Der ohrwurmige Mix aus Funk, Hardrock, Pop und allerlei schrägen Zutaten wurde durch die Stimme des Neuzugangs Mike Patton (MR. BUNGLE) veredelt. Seinem Einfluss ist es zu verdanken, dass sich FAITH NO MORE artifizieller präsentierten, dabei aber mit einer gewissen zappaesquen Leichtigkeit und einem Hang zum Sarkasmus an ihre Themen herangingen.
Und dann kam „Angel Dust“.
Die 1992 erschienene Nachfolgescheibe sprengte praktisch innerhalb einer Stunde Spielzeit alle bis dahin gegebenen Genregrenzen – von Metal bis Pop, Funk, Psychedelic, Country und Progressive. Knackige Riffs, überraschend kräftig produziert für die damaligen Verhältnisse, eine flexible Rhythmusmaschine mit Drive, atmosphärische Keys und Pattons wandelbare „Chamäleonstimme“, welche in einer nie gehörten Geschmeidigkeit von durchdringenden Screams zu schmetterndem Harmoniegesang wechseln konnte.
„Angel Dust“ ist ein unüberschaubar vielfältiges Werk geworden, sogar für Crossover-Verhältnisse. Oft genug wurde das Album in seine Bestandteile zerlegt, jeder Song analysiert, Pattons Botschaften entschlüsselt. Die Bedeutung des verstörenden Artworks – auf dem Cover ist ein wunderschöner Reiher zu sehen, auf der Rückseite die Szene eines Schlachthauses – versteht bis heute wahrscheinlich kein Mensch.
Neue Welten werden sich dem Indie-Junkie eröffnen, wenn dieser schon beim eröffnenden Track „Land of Sunshine“ vollständig die Orientierung verliert. Böse Riffs, manisches Gelächter, pures Chaos und ein Refrain, der sich für die nächsten Tage ins Gedächtnis brennt. Der Titel – „Land of Sunshine“ – eine Parodie auf die Heile-Welt-Themen der Popmusik. FAITH NO MORE zeigen all den Leuten, denen die Sonne aus dem werten Hinterteil scheint, den ausgestreckten Mittelfinger (um es milde auszudrücken). Radiofreundliche Singleauskopplungen? Fehlanzeige. Erfrischend geht es weiter, „Caffeine“ ist Koffein für meine Ohren, eine unbändige Adrenalinpumpe. „Midlife Crisis“ animiert zum mitsingen und –hüpfen, besitzt aber genügend Ecken und Kanten. „RV“ ist der Gipfel des Sarkasmus, „Smaller and Smaller“ demonstriert neben den beeindruckenden Gesangskünsten des Herrn Patton auch die „proggige“ Seite von FAITH NO MORE.
In dieser Weise funktionieren auch die restlichen acht Songs. Die subtile Aggressivität macht sich schließlich im finalen „Jizzlobber“ Luft. Eine sechsminütige Doom-Achterbahnfahrt. Die Band entlässt uns mit einem Gute-Nacht-Lied aus ihrem Kabinett der Absonderlichkeiten. Was uns bleibt ist ein verdrehtes Hirn und ein verschwitztes T-Shirt
„Angel Dust“. Ein Album, welches man nicht einfach unter dem Teppich der Rockgeschichte kehren sollte. Ich behaupte sogar, dass, zusammen mit der bahnbrechenden TALK TALK-Scheibe „Spirit of Eden“, diese CD einer der Trigger für die moderne Progressive Rock-Szene gewesen ist. Die Mischung aus anspruchsvollen Arrangements und ungewöhnlicher Instrumentierung, eingängigen Melodien und einer gesunder Portion ROCK ist heute in Alternativekreisen immer noch anzutreffen.
FAZIT: „Angel Dust“ ist einer der Klassiker des Crossover-Rock der 90er Jahre. Komplett gegen den Mainstream, komplett gegen alle Erwartungen der Fans und Kritiker. Dieses Album kennt keine Limits, keine Grenzen, doch FAITH NO MORE bleiben ihren Wurzeln trotzdem treu. Objektiv betrachtet kann man nicht anzweifeln, dass „Angel Dust“ seiner Zeit weit voraus war.
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 02.04.2009
Billy Gould
Mike Patton
Jim Martin
Roddy Bottum
Mike Bordin
Slash
58:49
08.06.1992