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Reviews

Gerry Rafferty: Life Goes On

Stil: Voluminöser Folk-Pop-Rock mit hohem Erinnerungswert

Cover: Gerry Rafferty: Life Goes On

Manchmal ist so ein Kritikerdasein verdammt schwer – sogar eine echte Bewährungsprobe, zumindest wenn man „Life Goes On“ von GERRY RAFFERTY besprechen soll.

Da sitze ich nun und höre zum x-ten Mal dieses Album und weiß einfach nicht, was ich davon halten soll. Der Mann, dem eine Straße, in der SHERLOCK HOLMES wohnte, zu Weltruhm und einem Evergreen verhalf, war seit neun Jahren sang- und klanglos in der Versenkung verschwunden, um kurz vor dem 2009er Weihnachtsgeschäft ein sehr liebevoll verpacktes, aber eben auch sehr nach Weihnachten klingendes Album unters Musikvolk zu werfen. Ein Album, das bis auf wenige Ausnahmen nur noch marginal etwas mit den frühen Scheiben zu tun hat, auf denen sich auch die detektivische „Baker Street“ als Straße in Richtung musikalischer Weltruhm erwies. Das war allerdings 1978! 30 Jahre später erweist sich vielleicht gerade dieses Erbe als die bittere Erfahrung, dass so ein Mega-Hit entweder nicht wiederholbar ist oder eben doch nur das viel beschworene Korn des blinden Huhnes war.

Aber auch Altbewährtes fehlt: Folkige Elemente – kaum auffindbar; Rock – höchstens ansatzweise; unvergleichliche Saxofonpassagen – Saxofon ja, aber unvergleichlich nein; Härte – kaum; dafür Melancholie – jede Menge! Eher neu ist, dass es sogar Klassik darauf zu hören gibt und Weihnachtliches und Chorales und Coverversionen und neu aufgenommene Titel alter Alben (von „Over My Head“, „On A Wing And A Prayer“ und „Another World“), die in den Jahren 1992 bis 2000 erschienen und nicht mehr erhältlich sind. Außerdem gibt’s auch völlig Neues, insgesamt sechs Titel, die sich einerseits in die Stimmung des gesamten Albums einordnen, andererseits doch deutlich davon abgrenzen („Kyrie Elieson“ oder „Silent Night“).

Und dann widmet RAFFERTY „Life Goes On“ auch noch seiner Enkeltochter – und ich werde das Gefühl nicht los, dass ihr dieses Album auch wahrhaft gefallen wird… wahrscheinlich im völligen Gegensatz zu seinen 70er-Jahre-Werken. Muss das schlecht sein? Ich denke nicht. Muss das mir gefallen? Nicht unbedingt. Und so sitze ich vor meiner Musikanlage, die mir wieder und wieder dieses auf klanglichem Spitzenniveau aufgenommene Scheibchen um die erwartungsvollen Ohren gehauen hat und weiß nicht, was ich davon halten soll!

Manchmal wurde mir purer Schmalz und sogar eine etwas peinliche Beatles-Cover-Version von „Because“, die sich hervorragend zum Einschlafen eignet, geboten. Allerdings hat die Musik selber eine fast beängstigend schöne Atmosphäre. Außerdem gibt es ein paar Titel darauf, die mehr Druck haben und durch wahre Meistermusiker eingespielt worden: MARK KNOPFLER oder ganz besonders MEL COLLINS (Mein Gott, der Typ war mal Mitglied bei KING CRIMSON!) am Saxofon.

Wie bewerte ich dieses Album bloß???

Und da hilft mir ein Zufall. Meine geliebte Partnerin, auf deren Meinung ich nicht nur in musikalischen Fragen großen Wert lege, betritt das Zimmer. Fragend blickt sie mich an: „Was hörst du da für wundervolle Musik?“ Und plötzlich weiß ich, dass ich meine Erwartungen begraben und unangebrachte Vergleiche mit der Vergangenheit meiden sollte. Das Album ist einfach schön und eignet sich wohl für fast alle Altersklassen, die gerne Musik hören, die eben nicht immer nur im Radio laufen muss.

Und noch etwas ist gewiss: Mit diesem Album habe ich ein fantastisches Weihnachtsgeschenk gefunden. Für wen, na ja, die Antwort ergibt sich wohl aus dieser Kritik.

FAZIT: Auf der einen Seite das ideale Album zu Weihnachten. Getragen, hymnisch, besinnlich und irgendwie schön. Auf der anderen Seite das ideale Album, um die frühen Gerry-Rafferty-Scheiben wieder aus seinem Schrank zu holen, um einen Mann zu hören, der früher mit „Baker Street“ die Welt eroberte und sich heute, ganz ähnlich wie DAVID GILMOUR, auf seine Insel zurückzieht und die Vergangenheit weit hinter sich lässt.

PS: Diese Kritik kann ich nicht meiner Enkeltochter widmen, weil ich noch keine habe. Hat überhaupt schon mal irgendwer eine Musikkritik irgendjemandem gewidmet? Egal! Mir zumindest ist es ein großes Bedürfnis, diese Kritik meiner überraschenden, unverhofften Muse und leidenschaftlichen Beraterin Teresa zu widmen. Ich wünsche dir von ganzem Herzen eine „Silent Night“ und frohe Weihnachten!

AKTUELLE ERGÄNZUNG (6. Januar 2011):
Also irgendwie geht alles schief, was mit dem Mann (und dieser Kritik) zu tun hat, der mit "Baker Street" einen der wohl beeindruckendsten Songs aller Zeiten mit dem definitiv beeindruckendsten Saxofon-Solo geschaffen hat!
Einerseits, was bei weitem nicht so wichtig ist, hat mir meine "leidenschaftliche Beraterin" einen Tritt in den atheistischen Hintern verpasst, der nicht in ihrem katholischen Rhythmus furzen wollte.
Doch andererseits, und das ist viel wichtiger, wird die "Baker Street" wahrscheinlich in der nächsten Zeit nur noch mit einem traurigen Hintergrund in den Radiostationen gedudelt werden - als so eine Art musikalischer Nachruf. Am 4. Januar verstarb plötzlich und unerwartet GERRY RAFFERTY im Alter von gerade mal 63 Jahren. In Deutschland hätte das noch nicht einmal bis zur Rente gereicht.
R.I.P. - zumindest die "Baker Street" wird ewig leben - da bin ich mir ganz sicher!

Punkte: 11/15

Erschienen auf www.musikreviews.de am 29.11.2009

Tracklist

  1. Kyrie Elieson (bisher unveröffentlichte, neue Aufnahme)
  2. The Waters Of Forgetfulness (neu eingespielt)
  3. Don’t Speak Of My Heart
  4. Because (bisher unveröffentlichte, neue Aufnahme)
  5. Everytime I Wake Up (neu eigespielt)
  6. Love And Affection (neu eingespielt)
  7. The Land Of The Chosen View (neu eingespielt)
  8. Life Goes On (neu eingespielt)
  9. Another World (neu eingespielt)
  10. Time’s Caught Up On You (neu eingespielt)
  11. Conscious Love
  12. Over My Head
  13. Hang On
  14. It’s Easy To Talk
  15. The Maid Of Culmore (bisher unveröffentlichte, neue Aufnahme)
  16. Your Heart’s Desire (bisher unveröffentlicht)
  17. Adeste Fidelis (bisher unveröffentlichte, neue Aufnahme)
  18. Silent Night (bisher unveröffentlichte, neue Aufnahme)

Besetzung

  • Bass

    Gerry Rafferty, Pavel Rosak, Mo Foster, Pino Palladino

  • Gesang

    Gerry Rafferty

  • Gitarre

    Gerry Rafferty, Bryn Haworth, Hugh Burns, B J Cole, Mark Knopfler, Jerry Donahue

  • Keys

    Gerry Rafferty, Pavel Rosak, Kenny Craddock, Ian Lynn, Alan Clark

  • Schlagzeug

    Arran Ahmun, Giles Twigg, Pavel Rosak

  • Sonstiges

    Giles Twigg (Percussion), Aaron Ahmun (Percussion), Andy Patterson (Glocken), Pavel Rosak (Percussion, Brass, Marimba), Mel Collins (Saxophon), Arran Ahmun (Hi-Hat, Cymbals, Tambourine, Kuh-Glocke), Andrew Jackman (Streicher, Oboe, Horn und Kontrabass), I

Sonstiges

  • Label

    Hypertension – The Art Of Music

  • Spieldauer

    77:18

  • Erscheinungsdatum

    27.11.2009

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