Gleicht die Besprechung einer Anthologie dieser Band nicht dem wohl bekannten „Eulen nach Athen tragen“ oder noch besser einer kleinen Gotteslästerung, weil beim Nennen dieses Ortes einem nur gute Musik, aber nicht Maria und Josef samt ihrem geheiligten Jesus-Kindlein in den Sinn kommt? Wie immer man an dieses Problem auch herangehen möchte – Fakt zumindest ist, dass meine kritischen Pilgerwege mich nicht bis zu dieser Stadt führten, dafür aber bis zu meinem CD-Player, der auch ohne jegliche Weihwasserbeträufelung die Musik dieser gelungenen Zusammenstellung erklingen lässt: NAZARETH „The Anthology“, samt Totenkopf mit Engels- (???) oder Adler-Flügeln. Begeben wir uns also nicht auf religiöse, sondern melodiöse Spurensuche.
„Wie lange wird es NAZARETH noch geben? Ich denke, wir werden so lange durchhalten, wie die Jungs in unserer Band Spaß daran haben, zusammen zu spielen. Und diesen Spaß werden wir noch lange, lange Zeit haben.“
Mit dieser Aussage des Nazareth-Bassisten aus dem Jahr 1973, die er in einem Interview für das „Sounds Magazine“ traf, wird das 28 Seiten dicke Booklet der Rock-Urgesteine, die sich wahrscheinlich aus Sicht jedes Nicht-Insiders nach einem religiösen Pilgerort benannten, eröffnet. Nur erscheint uns hier nicht der Erzengel Gabriel (wie in der Verkündungskirche von Nazareth), sondern ein Haufen musikalischer Schotten, die mit „The Anthology“ ihr 35-jähriges Plattenjubiläum abfeiern. Außerdem erfahren wir natürlich in dem umfangreichen Begleitheft, dass NAZARETH ihren Namen eben nicht in Anlehnung an die geheiligte Stadt, sondern an einen weniger geheiligten Titel der SHADETTES wählten. CAFFERTY, SWEET & AGNEW hatten diese, hauptsächlich als Coverband agierende Gruppe 1966 gegründet und so einige schottische Pubs musikalisch erobert, bevor sie nach einem Textauszug ihres Titels „The Weight“ (I pulled into Nazareth) sich den wenig heilig-testamentarischen, aber eben doch recht wohl klingenden Band-Namen verpassten.
Überhaupt schienen die Schotten mit Namen gerne zu provozieren, wobei sie allerdings spätestens 1975 Federn (oder besser so einige Haare) lassen mussten. Ihre Absicht nämlich, das vierte Album „Son Of A Bitch“, wie eine der übelsten Beschimpfungen oder Beleidigungen überhaupt zu nennen, scheiterte am Widerstand der Plattenfirma. Stattdessen bekam es den Namen „Hair Of The Dog“ verpasst, wobei jedoch, wie auch auf dieser Zusammenstellung zu hören, die umstrittene Textzeile im gleichnamigen Lied erhalten blieb.
Und dass die Jungs aus dem Land, in dem die Männer stolz und unbeslipt karierte Röcke tragen dürfen und ihre Dudel-Säcke über sowie die Dödel-Säcke unter dem Röckchen präsentieren, auch eine ausgeprägte Leidenschaft zu Hunden haben, wird im abschließenden Postskriptum dieser Rezi besonders deutlich.
Sich streng an ihre musikalische Chronologie haltend, gibt es auf dieser liebevoll verpackten, aber mit einem in gewisser Weise unpassend erscheinendem Cover (angelehnt an die Single-Ausgabe von „May The Sunshine“) versehenem „Best Of“-Album insgesamt 38 Titel zu hören, die umfassend das gesamte Spektrum von NAZARETH widerspiegeln. Ob es nun die hart rockende Anfangszeit, die melodiösere AOR-Zwischenzeit oder die rockrückbesinnende Neuzeit, die über all die Jahre hinweg auch immer wieder von wundervollen Balladen begleitet wurde, ist – jede Ära erhält hier ihre entsprechend gleichberechtigte Würdigung.
Im Booklet erfährt der aufgeschlossene Hörer, der sich nicht nur auf’s Hören beschränkt, sondern ebenso gerne liest, dann auch viele interessante Informationen zu den einzelnen Alben, Titeln oder Lebensstationen rund um Nazareth, wie beispielsweise, dass auf „Rampant“ sogar JON LORD von DEEP PURPLE an den Keyboards aushalf und deren Sänger ROGER GLOVER die Scheibe produzierte. Dafür bemühten sich später DEEP PURPLE um McCAFFERTY, der IAN GILLAN am Mikro ersetzen sollte. Genauso spannend ist auch die Geschichte in Verbindung mit LYNYRD SKYNYRD. Eigentlich wollten beide Bands nach einem gemeinsamen Konzert während ihrer 1977-USA-Tour gemeinsam im Flugzeug die Rückreise antreten, aber durch eine verspätete Pressekonferenz konnten Nazareth dieses Angebot nicht annehmen – das war ihre Lebensrettung, denn das Flugzeug stürzte samt LYNYRD SKYNYRD ab. Im gleichen Jahr war auch der auf diesem CD-Doppelpack enthaltene Titel „Gone Dead Train“ entstanden, schicksalhaft wäre wohl der Name „Gone Dead Plain“ passender gewesen.
Leider fehlen auf diesem Doppelalbum gerade die epischen, düsteren, längeren Titel. „Please Don’t Judas Me“ aus dem Jahre 1975 vermisse ich dabei besonders schmerzlich, was wohl auch daran liegt, dass sogar METALLICA diesen Song schon live bei ihren Konzerten coverten. Dagegen fehlt natürlich ein Titel, der sogar Schlagersternchen die Tränen in die Augen treibt, keinesfalls. „Dream On“, eine schlüpferstürmerische Ballade, an der sich sogar die „goldene Stimme aus Prag“, KAREL GOTT, und das „dünne Stimmchen aus Deutschland“, JEANETTE BIEDERMANN, heranwagten. Der tschechische GOTT betete diesen verträumten Song sogar in seiner tschechischen Muttersprache herunter.
Dazu passend gibt es mit „Winner On The Night“ hier zusätzlich eine Single, die es nie auf ein offizielles Studio-Album schaffte, dafür aber 1989 die ARD-Krimireihe TATORT eroberte. In der Serie „Herzversagen“ beendete dieser, sehr deutlich an die Herz-Schmerz-Ballade „Dream On“ erinnernde Song den mehr oder weniger spannenden Krimi.
Grund genug nun auch für mich, diese hoffentlich mehr spannende und weniger langweilige Kritik mit folgendem FAZIT zu beenden:
Hier kommt die digital liebevoll remasterte Anthology einer schottischen Band, die der düsteren Attitüde von BLACK SABBATH ein sonniges Feuerteufelchen entgegensetzt, dem härteren Rock von DEEP PURPLE himmlische Melodien verleiht, mit URIAH HEEP die „Lady In Black“ durch den „July“ begleitet oder am Ende, trotz harter Konkurrenz aus dem Hause SLADE, mit ihrem göttlichen Namen textlich die pure Gotteslästerung betreibt und musikalisch in härteren Momenten den Hallelujah singenden Belzebub vertreibt.
PS: Und noch ein Zitat des Sängers McCAFFERTY aus dem Jahre 1998 zum Schluss dieser „fruchtbaren“ Kritik: „Warum spielen, touren und nehmen Nazareth noch immer Musik auf? Aus demselben Grunde, wie sich ein Hund seine Eier leckt – weil sie’s können!“ Danke für diese unchristliche Weisheit aus dem provokanten Hause Nazareth!
Erschienen auf www.musikreviews.de am 09.07.2009
Pete Agnew (seit 1968)
Dan McCafferty (seit 1968)
Manny Charlton (von 1968 bis 1986), Zal Cleminson (von 1978 bis 1986), Billy Rankin (von 1981 bis 1983)
John Locke (von 1981 bis 1983)
Darrell Sweet (von 1968 bis zu seinem Tod am 30. April 1999), Lee Agnew (seit 1999)
Salvo/Union Square Music/Soulfood
155:24
26.06.2009