Wir Menschen sind schon eine ganz besondere Spezies – angeblich Gottes Schöpfung, sein Meisterwerk, aber im Grunde doch nur ein Haufen von selbstverliebten Arschlöchern, die es nicht schaffen, auf Mütterchen Erde friedlich miteinander umzugehen. Sollte also Gott unser heiliger Vater sein, dann verhalten wir uns im Umgang mit unserer geliebten Mutter wie gnatzige, bösartige Stiefkinder. An allen Ecken und Enden kracht es und die Gründe dafür sind so vielfältig wie die Haare im unglaublich hässlichen, voluminösen Oberlippenbart unseres Handballbundestrainers (Schließlich war ja gerade Handball-WM und wir sind unseren Weltmeistertitel los … und wer ist daran schuld? Natürlich nur die „bösen“ Schiedsrichter!).
Wir sind so klug. Wir sorgen für eine strahlende Zukunft, leider nur mit Hilfe von Atomkraftwerken. Wir können auch Raumschiffe bauen. Wir schicken diese sogar auf andere Planeten, um dort unsere Duftmarken zu hinterlassen, wie ein Hund, der jeden Baum seines Reviers und des gegnerischen Reviers anpinkelt. Wir achten auf Ordnung in unserem Heim und sehen nur beim Blick aus dem Fenster, was Andere außerhalb der wohligen Stube so alles anrichten. Wir können das Übel sehen. Wir können aber nichts dagegen unternehmen, denn dann müssten wir ja vor die eigene Tür treten, um dort zu kehren. Wir ziehen stattdessen die Gardinen zu, wenn wir im Inneren unserer kleinen, heilen Wohnwelt unsere Kinder verhauen und die Frauen zum ehelichen Beischlaf zwingen oder selbst mit uns oder sonstwem die Dinge anstellen, die eigentlich verboten sind. Wir sind eben, ob vor oder hinter den Türen, nichts Anderes als Barbaren.
Manchmal aber schieben wir eine CD in unseren Player und hören, ohne wahrscheinlich ein schlechtes Gewissen dabei zu bekommen, von NEMO ein Album mit genau diesem Titel.
Ein Sturm zieht auf – am Anfang des Albums. Gitarren fräsen sich durch ein Gewitter, um selbst zum Gewitter zu werden. Verfremdeter französischer Gesang, als käme er aus einem Megaphon, gewinnt immer mehr an Klarheit, steigert sich und wird am Ende von Schlaginstrumenten abgelöst, die wiederum seltsamen Keyboardklängen weichen – und unter allem bummert der Bass und bedrohlich kündigt sich die E-Gitarre an. Hier ist das Barbarische in Text und Musik ideal aufeinander abgestimmt.
Überhaupt stimmt so einiges an diesem barbarischen Album, um es zu einem wirklich guten Album werden zu lassen. Auch das Cover mit dem traurig dreinblickenden Mädchen, das man sofort in die Arme und sein Herz schließen will, um es zu trösten und zu schützen, vor den Panzern, die im Hintergrund vor der Kulisse einer zerstörten Stadt so bedrohlich wirken. Wird auch das Mädchen bald so zerstört in sich zusammengesunken auf dem Stein liegen wie die Puppe neben ihr? Folgt man den Klängen dieses größtenteils finsteren Albums, so lautet die Antwort wohl unweigerlich: Ja!
Doch es folgt ein Lichtblick: „Le Film De Ma Vie“ (Mein Lebensfilm) – Piano, Satzgesänge, zerbrechlicher Gesang und eine an DAVID GILMOUR erinnernde Lead-Gitarre. Das ist fast zu schön, aber die Trauer des gesamten Albumkonzepts weicht auch hier nicht. Die Barbaren, man spürt sie förmlich ständig in seiner Nähe. Und sie nähern sich einem dann auf leisen, immer lauter werdenden, zart jazzigen Sohlen als die „L’armée Des Ombres“ (Armee der Schatten).
Spätestens jetzt wäre es wieder an der Zeit, sich nicht nur der Musik zu widmen, sondern alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu nutzen, um die unbändige Neugier zu stillen, die „Barbares“ beim aufgeschlossenen Hörer zu wecken versteht. Allein ein Blick auf die dem Cover deutlich angepasste Homepage spricht mehr als tausend Worte. Mit viel Liebe zum Detail hat man sich ans Werk gemacht und das Ergebnis ist beachtenswert: Ein nackter Mann sitzt auf dem Bett eines Hotelzimmers, das nur noch eine Ruine ist, da die rechte Wand wohl durch einen Bombeneinschlag weggerissen wurde. Aus dieser Perspektive sieht man zerstörte Hochhäuser, ein ausgetrocknetes Flussbett und Panzer. Im Zimmer befindet sich eine Vielzahl von Dingen, hinter denen sich, fährt man mit dem Cursor darüber, Informationen zu Musik und Band verstecken.
Allerdings schaut dieser entblößte Mann, neben dem noch eine nackte, von ihm abgewandte Frau liegt, nicht etwa durch das Loch in der Mauer oder auf den rauschenden Fernseher vor ihm, sondern durch das geöffnete Fenster. Dieses gibt den wundervollen Blick auf eine Meeresklippe frei, auf der eine Frau mit wehendem schwarzen Kleid steht. Unergründlich, ob sie von der Klippe springen oder nur die Schönheit des Naturschauspiels bewundern will. Und während sich eine Schlange durch das Bild schlängelt und ein Hubschrauber über die zerstörte Stadt fliegt, taucht an der oberen rechten Ecke des Bildes folgende Frage auf: „How can we dream of eden in a afterworld, while with obscene mud we stain the heaven we share?“ (Wie können wir nur von einem Eden im Himmelreich träumen, während wir laufend mit obszönem Dreck diesen Himmel verpesten?)
Das zumindest ist endlich mal was Konkretes und nicht dieses oft so mythologisch, geheimnisvoll-verkrampfte Prog-Rock-Gedöns über Magier, Feen und Zwerge, die sich als „Herren der Ringe“ auf den Weg machen, die Welt mit ihren übernatürlichen Kräften zu retten. Bei NEMO betreten wir nicht die Mittelerde, sondern die real verpestete Erde – und wenn wir uns nicht selber helfen, dann ist uns eben nicht zu helfen.
Der einzige Wehmutstropfen bei dieser moralisch-musikalischen Mission ist wohl der, dass NEMO auf „Barbares“ ganz ähnlich klingen, wie bereits auf den beiden vorangegangenen Alben „Si – Partie I“ (2006) und „Si – Partie II“ (2007). Progressive Rockmusik, die getragen von den unterschiedlichsten Gitarren-Wänden und recht unspektakulärem Gesang keinerlei Angst vor den Begriffen „Retro“ und „Neo“ hat. Und so sind die Welten innerhalb dieses Universums deutlich abgesteckt: im eigenen Lande klangen ANGE ähnlich, beim italienischen Nachbarn war’n es PFM oder LE ORME, im Ost-Block besonders SBB und bei den Schweden käme es zu einer Paarung aus der Düsternis von CARPTREE mit der Verspieltheit der FLOWER KINGS, die bereits in SPOCK’S BEARD ihre amerikanisch Entsprechung fanden.
Besonders schön ist dieses „zerbrechliche“, von jeglichem Bombast befreite Ende. Ein Klavier, das sich durch all die musikalischen Höhen und Tiefen, die lauten und leisen Momente, den Weg bahnt mit einer schönen Melodie. Es klingt wie die Hoffnung darauf, dass wir den Ballast um uns herum endlich abwerfen und wieder zu den „natürlichen“ Dingen des Lebens zurückkehren. So einfach und schön kann es sein, dieses Leben. So einfach und schön ist auch diese Musik in ihrer barbarischen Härte und feenhaften Verträumtheit.
Und während gerade ein bayrischer Papst einen Holocaust-Leugner wieder salonfähig macht, höre ich mir noch einmal „Barbares“ an und denke bei mir: „Um Himmels Willen!?“
FAZIT: „Barbarische“ Musik kommt heutzutage aus Frankreich und hat definitiv nichts mit der Präsidentengattin zu tun. Barbarische Musik ist retroprogressiv mit viel Gitarre und nicht übertrieben viel Gesang, samt muttersprachlichen, anspruchsvollen Texten und einer gehörigen Portion Düsternis. Sterne gehen eben nicht am Tage auf, sondern in der Nacht. Und dieser Stern der Dunkelheit trägt den Namen NEMO.
Punkte: 12/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 16.02.2009
Lionel B. Guichard
JP Louveton
JP Louveton
Guillaume Fontaine
JB Itier
Guillaume Fontaine (Flöte), Alle (Background-Gesang)
Quadrifonic / Just For Kicks
67:59
12.12.2008