OCEANSIZE. „Effloresce“. Diese Wörter zergehen auf der Zunge und hinterlassen ein eigenartiges Gefühl. Sie erzeugen Bilder – Bilder von exotischen Seeanemonen und Korallen, die im tiefen türkisblau des Meeres zu voller Blüte erstrahlen und einen bunten Nebel aus Sporen in die Weite des Ozeans schießen.
Bei OCEANSIZEs Debut überschlugen sich die Kritiker förmlich. Viele sprachen von einer Erneuerung des Manchester-Sounds, andere priesen es als „New Artrock“. Der Hype um „Effloresce“ war groß, lässt aber durchaus verstehen, warum die meisten Lorbeeren-Verteiler beim fremdartigeren „Frames“ plötzlich schlechte Punktzahlen zogen.
„Effloresce“ entspringt nämlich wie jede Blüte einem festen Fundament, einem krachigen, unbehauenen Alternative-Sound. Mit Distortion wird nicht gespart. Da ist mindestens genauso viel los wie bei ALICE IN CHAINS und JANE’S ADDICTION. Doch OCEANSIZE bleiben nicht im muffigen Grungekistchen, sondern zerlegen die typischen, bleischweren Elemente und walzen sie aus und strecken sie teilweise auf Überlange, um den Songs einen nie gekannten Kick zu verleihen.
„Effloresce“ landete vor allem aber wegen der Kokettierung mit eindeutigen Postrock-Versatzstücken in die Prog-Schublade. Gerade durch das exzessive Laut-Leise-Geplänkel und der völlig abgespacten Parts wurden die bratzigen Gitarren auf eine neue Ebene gehoben.
Das machte seinerzeit „Effloresce“ für viele Kritiker so unheimlich und löste unter Hörern eine eigenartig unbeschwerte, losgelöste Stimmung aus. Der erwähnte Manchester-Sound wurde plötzlich zu einer Droge, zur Kiffermucke. Nein, ich hüte mich davor, OCEANSIZE einen derartig unwürdigen Stempel aufzudrücken. Was hier in über 70 Minuten stattfindet, ist ein verträumtes, quirliges Soundgemälde einer Band, die zuvor mit unzähligen EPs auf sich aufmerksam gemacht hat. Da taucht man mit „I Am The Morning“ postrockbombastisch in nautische Tiefen und schon wird man mit „Catalyst“ in einen schrägen, punkig-rotzigen Rocker geworfen. „Rotzig“ insofern, weil OCEANSIZE verdammt nochmal mehr Drive und Mut zum Ausgeflippten haben als viele der schon lange vergammelten Retroprogger. Völlig psychedelisch wird es mit „One Day All this Could be Yours”, einem Mantra über die Weltherrschaft, welches sich unweigerlich in die Hirne der Hörer einbrennt. Das massige „Massive Bereavement“ entführt uns wieder in bunte, lebendige Korallenriffwelten, bevor ein tosender Sturm die ganze Idylle zu Nichte macht. Da brechen Dämme und jeder, der bis jetzt andächtig unter seinen Kopfhörern verweilt hat, muss diese entgeistert herunterreißen und sich fragen, ob das nicht vielleicht doch irgendwelche spätnächtlichen Halluzinationen seien.
„Rinsed“ zeigt ähnlich wie das später folgende „Unravel“, dass ein ruhiges Zwischenspiel bei OCEANSIZE nicht zwingend ein Lückenfüller sein muss. Mit Soundscapes erzeugt die Band wohlige Verschnaufspausen, bevor „You Wish“ das Kopfkino weiterführt. „Remember Where You Are“ macht nochmal schmerzlich auf Layne Staleys Ableben aufmerksam, so deutlich (und gekonnt) „kopieren“ OCEANSIZE den geisterhaft monotonen Gesang des A.I.C.-Sangesduos. Passt an dieser Stelle aber perfekt.
Liebhaber kurzer und knapper Grindcorealben werden schon mal ächzen. Ab hier beginnt gerade mal die zweite Hälfte des Albums... und irgendwie könnte man meinen, ein Völlegefühl zu spüren. All diese Soundspielereien, die vielen Details und versteckten Windungen in den Songstrukturen würden den Hörer zu schaffen machen, wäre da nicht „Amputee“, ein überraschend melodiöser Bombastrocker, der sich an den mächtigen Gitarrenwänden nach oben in den Himmel schraubt.
„Der Höhepunkt ist erreicht. Es geht nicht weiter. Da kommt nichts mehr.“
Doch OCEANSIZE ziehen bereits auf ihrem Debut alle Register, um ihre Spuren zu hinterlassen. Die letzten drei Songs des Albums – „Women Who Love Men...“, „Saturday Morning Breakfast Show“ und „Long Forgotten“ - sind mit ihren insgesamt fast dreißig Minuten am längsten, harte Brocken, die nochmals mit starken Melodien, heftigen Gitarren und langsamen Klangwellen im Stile von GODSPEED YOU ! BLACK EMPEROR nochmal richtig abgehen.
OCEANSIZE haben sich nicht umsonst so genannt. Was BARK PSYCHOSIS auf „HEX“ entwickelten, führen die Manchester mit „Effloresce“ – auch hier sagt der Name alles – zur vollen Blüte. Ein raumgreifender Breitwandsound, erzeugt mit drei Gitarren, einer Bassgitarre und einem Schlagzeuger (und Keyboards, die allerdings nur sporadisch eingesetzt werden). In der SIZE eines OCEAN wie gesagt...
FAZIT: Warum gebe ich nun aber „nur“ zwölf Punkte? OCEANSIZE haben auf „Effloresce“ doch alles richtig gemacht, das Album ist übervoll mit Ideen und Spannung. Wie eine Schultüte, in die man zu viel hineingestopft hat. Der Grund für die formal gesehen durchschnittliche und historisch gesehen großzügige Bewertung liegt in der Tatsache begründet, dass ihre nachfolgenden Alben schlicht ausgereifter sind und mehr Abwechslung bieten. Den Stellenwert als quasi Kultscheibe hat „Effloresce“ aber sowieso schon inne.
Punkte: 12/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 11.11.2009
Jon Ellis
Mike Vennart
Steve Durose, Mike Vennart, Stanley Posselthwaite
Jon Ellis
Mark Heron
Beggars Banquet Records
75:43
29.11.2003