Das Unbekannte Flugobjekt namens SAGA, das über München schwebt und die DVD-Hülle von „Contact“ ziert, nimmt in dieser Form wohl zum letzten Mal mit uns Kontakt auf. Genau nach diesem Konzert geht der Steuermann (Oder war er vielleicht sogar der Kapitän?) endgültig von Bord. Es ist in der Konstellation sein letzter Kontakt mit uns, seinen Anhängern, Fans und Kritikern. Trotzdem wird die Reise weitergehen. Die Zukunft sieht stimmlich (und musikalisch?) anders aus und beginnt wohl endgültig ab dem 16. April 2009, wenn SAGAs Flieger zum ersten Konzert mit neuem Sänger im Rahmen der „Human Condition Tour“ in Worpswerde landet. Bis zum 17. Mai wird dieser Flug dann dauern. Gemeinsam mit der Putzkolonne von IT BITES als Support geht es durch die unterschiedlichsten Städte in Deutschland, Holland, Österreich und der Schweiz.
Mit „Contact“ aber blicken wir ein letztes Mal in SAGAs Live-Vergangenheit und nachdem man diese beiden wundervollen DVDs genossen hat, bleibt nur zu hoffen, dass auch die Zukunft mit dem neuen Sänger ROB MORATTI, der seiner Stimme wegen garantiert vor jedem Verdacht, ein zukünftiger Michael-Sadler-Klon zu werden, erhaben ist, in einem ähnlichen Glanz erscheint.
Emotion pur (Ein Begriff, der für Mr. Sadler fast doppeldeutig erscheint – einfach mal den letzten Satz vor dem Fazit lesen!) ist angesagt, beim Abschlusskonzert vor ausverkauftem Haus in München. Vom ersten bis zum letzten Album wandert die kanadische Kultrockband durch ihre komplette dreißigjährige Musikgeschichte, die neben echten „Hits“ auch so einigen progressiven Stoff aufweist. Da ist es fast schon schade, dass die Konzert-DVD nicht von der Möglichkeit Gebrauch macht, die Titel und deren Erscheinungsdatum einzublenden. Es wäre schon eine interessante Sache gewesen, die fließenden Übergänge während des Konzerts, wenn ein Titel des letzten an den des ersten Albums gekoppelt wird (Book Of Lies / The Perfectionist), auch nachlesen zu können. Aber Schwamm drüber – darum habe ich mir einfach mal die Mühe gemacht, in der Titelleiste auch das Erscheinungsjahr und den Albumtitel als Klammerbemerkung anzugeben.
30 Jahre in einem Atemzug. 30 Jahre, die aber nicht ganz spurlos an MICHAEL SADLER vorbei gegangen sind. Ergraut ist er, aber was sagt das schon. Vielleicht hat man dadurch mehr Verständnis für seine Entscheidung, bei SAGA auszusteigen, um mehr Zeit für seine Familie und ganz besonders seinen neugeborenen Sohn zu finden. Doch biologisches Alter hin oder her, seine Stimme weist keinerlei Alterserscheinungen auf, sie ist jung geblieben und klingt so, als wäre sie niemals irgendwelchen Alterserscheinungen ausgesetzt gewesen. Überhaupt ist SADLER während des gesamten Konzerts sehr um engen Kontakt zum Publikum bemüht. Seine Ansagen sind größtenteils auf Deutsch und auch längere Erläuterungen, wie beispielsweise seine Abschiedsworte, versucht er aus einer interessanten Kombination in „Denglisch“ zu gestalten. Als ihm dann sogar vor „Times Up“ eine Krone von der Band überreicht wird, gelingt es ihm kaum noch, seine Tränen zu unterdrücken, während er „Thank you – für alles!“ sagt. Ganz ähnlich gestaltet sich dann auch das Ende des Konzerts.
Aber es läuft nicht alles so glatt wie in diesen Momenten. Als SADLER nach „I’m OK“ zwei Titel der letzten SAGA-CD ankündigt, verbunden mit der Frage, ob das Publikum diese hören will, ist die Reaktion der Angesprochenen eher verhalten. Und tatsächlich: „Can’t You See Me Now“ ist der erste und einzige Schwachpunkt, in dem der Gesang kränkelt, die Musik sich allerdings in ungeahnte, ziemlich harte Höhen aufschwingt. Ein gesanglicher Tiefpunkt trifft auf den ersten instrumentalen Höhepunkt.
Verfolgt man überhaupt die unbändige Spielfreude der Musiker um die Brüder CRICHTON, dann wird einem kaum bange. Auch ohne SADLER wird solche Musik funktionieren – das haben ja MARILLION bereits bewiesen, die einen ebenso radikalen Schnitt beim Gesang setzten.
So bekommt auch das SAGA-„Greenhorn“ CHRIS SUTHERLAND hinterm Schlagzeug sein Solo samt JAMES-BROWN-Einlage von „Sex Machine“. Unglaublich geil ist dieses ziemlich kurze, aber total einfallsreiche Solo, auch wenn der ziemlich adipöse Drummer zum Glück nicht einem CARL PALMER nacheifert, der sich während seines Solos traditionsgemäß immer sein T-Shirt vom Körper reißt.
Nach dieser trommelnden Einlage folgt neben dem ersten Hemdwechsel SADLERS (von rot auf blau-weiß-längsgestreift) mit „The Flyer“ auch gleich einer der „Mega“-Hits von SAGA.
Dann ist JIM GILMOUR dran. Auch er bekommt sein Solo an den Tasten, das einem wiederum absolute Hochachtung abverlangt. Der Mann kann nicht nur wie zwei richtig große Prog-Keyboarder, die Rick und Keith mit Vornamen heißen, spielen, er ist ihnen an den schwarzen und weißen Tasten sogar noch einen Schritt voraus, weil er richtig gut singen kann.
Mit Humor kündigt dann SADLER in klassischer JFK-Berliner-Mauer-Rede-Verarsche einen dritten Titel ihres letzten Albums an, nachdem er zuvor behauptet hatte, nur zwei Titel von „10.000 Days“ zu präsentieren: „Meine Damen und Herren! Ich bin ein … LÜGNER!“, und schon folgt der Titeltrack des 2007er Albums. Und hier ist alles perfekt, sogar der beeindruckende Satzgesang überzeugt zu 100%! Als dann IAN CRICHTON auch noch die akustische Gitarre auspackt, kommt fast eine, keinesfalls kitschige, Lagerfeuer-Romantik auf. Allerdings nervt nach „Wind Him Up“ das ewige Zugabe-Gerufe, das man auf der DVD durchaus etwas wegschneiden hätte können, auch wenn die euphorisierten Zuschauer ihre „Goodbye Michael“-Schilder ständig in der Luft rumschwenkten. Ungehört blieben diese Rufe natürlich nicht. SADLER erscheint mit neuem, pinkfarbenem Hemd und an einem für ihn doch recht ungewöhnlichem Instrument, dem Bass. „Humble Stance“, der angeblich endgültig letzte Titel erklang. Ja, ja, wir wissen ja, Herr Sadler, sie sind ein LÜGNER – denn „Don’t Be Late“ und „What’s It Gonna Be Tonight“, der dann wirklich allerletzte Titel von SAGA mit SADLER, beenden das 135 Minuten dauernde Konzert. Ein großes Finale einer wirklich großen Band!
Die ganze Zeit während des Bewunderns dieser DVD fragte ich mich jedoch, warum die freiwillige Selbstkontrolle diesen schönen, bewegenden Konzertmitschnitt erst ab 12 Jahren freigegeben hat. Das ist wirklich kein Witz und kann wohl nur daran liegen, dass MICHAEL SADLER eine „verwegene“ Hemden-Zuknöpftechnik hat, die drei Knöpfe offen lässt und damit einen dauerhaften „Ein“-Blick auf seine nun schon grau behaarte, aber durchtrainierte Brust frei gibt. Mit Vulgarismen, wie der gute FISH, der bei seinen Konzerten gefühlte 100 Mal das Wort „Fuck“ verwendet, wirft SADLER auch nicht um sich. Oder gilt bei den freiwilligen Selbstkontrolleuren ein Kuss auf den Bauch einer schwangeren Frau schon als Verstoß gegen die guten Sitten – ich weiß es einfach nicht, aber vielleicht kann mir sexuell rundum Aufgeklärten mal jemand einen Tipp geben, in welchen Momenten ich bei diesen beiden Silberlingen um mein Schamgefühl fürchten muss.
Die DVD 2 enthält mit SAGA-B-Roll eine knapp 10minütige zweigeteilte Dokumentation, in der auf der linken Seite (bis zur Bildschirmmitte) ein Live-Probenmitschnitt von „Home“ zu sehen und hören ist, der auch auf der „Full Circle“-CD verewigt wurde. Auf der rechten Seite sprechen abwechselnd IAN CRICHTON und JIM GILMOUR über die Anfänge der kanadischen Band in Toronto und deren (oder besser MICHAEL SADLERs) Ende in München.
Zwei Bildergalerien mit einer Laufzeit von gut 4 Minuten und der Musik von „On The Loose“ und „On The Air“ sind schmückendes, liebevoll gestaltetes, zusätzliches Beiwerk.
Ein in durchschnittlicher (natürlich nicht wie in München in 5.1.Dolby-Digital-Ton) Klangqualität aufgenommener 35minütiger Mitschnitt eines Konzerts in Mannheim (Underground TV) macht diesen DVD-Doppeldecker zum Abschied eines MICHAEL SADLERs dann endgültig komplett. Was bleibt, ist ab sofort nur noch die Erinnerung an 30 Jahre SAGA mit einem charismatisch singenden Frontmann – und natürlich diese Abschieds-DVD.
Obwohl, auch wenn SADLER nicht mehr bei SAGA singt, ganz müssen wir uns nicht von seiner einmaligen Stimme verabschieden. Dafür hat bereits der Gitarrist von PUR (Jawohl, der deutschen Band, die Pop und Schlager mit einer gehörigen Portion Rock und anspruchsvollen deutschen Texten verbindet!), RUDI BUTTAS gesorgt, der im Frühjahr mit seiner Band RUDY’S JOURNEY auf Konzertreise geht, begleitet von einem „Special Guest“ am Mikrofon: MICHAEL SADLER!
FAZIT: Bei den außerirdisch guten, in einem Gesichts-UFO über München schwebenden SAGA geht deren Sänger endgültig von Bord. Ein neuer Sänger, ROB MORATTI von FINAL FRONTIER, ersetzt ihn am mikrophonischen Steuerhebel. Wir wissen nicht, was uns die Zukunft mit ihm und SAGA bringt. Wie die beeindruckende Vergangenheit aussah, zeigt uns anschaulich diese DVD. Eine schöne Erinnerung für alle Fans, aber auch für diejenigen, die einfach nur Freude an hervorragenden Konzert-Aufnahmen haben!
Erschienen auf www.musikreviews.de am 14.03.2009
Jim Crichton
Michael Sadler, Jim Gilmour
Ian Crichton
Jim Gilmour, Michael Sadler, Jim Crichton
Chris Sutherland
InsideOut / SPV
186:30
27.02.2009