Nach einem grandiosen Debüt, sagt eine Musikerweisheit, ist der Nachfolger immer besonders schwer. „Waterline“ erschien vor drei Jahren und war ein gigantischer Paukenschlag des bis dato im Prog unbekannten Keyboarders ALEX CARPANI. Das lag wohl besonders auch daran, dass sich der italienische Musiker jede Menge Mitstreiter in sein Boot geholt hatte, die entlang der Wasserlinie die Maschinen unter Volldampf setzten. Egal, ob es nun der Sänger von LE ORME war, die zwei Bassisten oder die Flöten- und Saxofon-Einlagen eines CORY WRIGHT. Jeder Ton vermochte zu überzeugen. CARPANI hatte irgendwie alles richtig gemacht.
Doch bereits beim Studieren der Promo-Infos regt sich in mir Skepsis. Nicht ein einziger Musiker des „Waterline“-Albums wirkt diesmal auf „The Sanctuary“ mit. Keine Flöten, kein Saxofon, kein anderes „ungewöhnliches“ Instrument – nur Keys, Gitarren, Bass, Schlagzeug und Gesang. Gesang?! Na ja – Herr CARPANI singt nunmehr selber und ganz offensichtlich liegen ihm die schwarzen und weißen Tasten mehr als seine Stimmbänder. Wobei seine „neue“ Band gar nicht so neu ist, auch wenn sie im Studio beim ersten Album nicht mitwirken durfte, begleitete sie CARPANI zumindest bei seiner „Waterline“-Live-Tour, wie beispielsweise GIGI CAVALLI COCCHI, der Schlagzeuger von MOONGARDEN, oder ETTORE SALATI, der Bassist von THE WATCH.
Neue Band – neues Konzept: Statt auf Filigranarbeit setzt CARPANI nun auf Bombast und mehr Dynamik, statt auf typische Italo-Progelemente auf klassischen Retro- & symphonischen Prog-Rock, statt der belebenden Jazz-Einlagen auf ein durchgehendes Konzept ohne wirklich kreativ-musikalische Überraschungen und statt gutem Gesang vertraut er leider voll und ganz auf seine eigene Stimme. Ja, ja – MOONGARDEN und THE WATCH lassen wirklich grüßen, aber dummerweise nur aus instrumentaler, aber nicht vokaler Sicht!
„Burning Braziers“, ein Instrumental, eröffnet „The Sanctuary“ recht gewaltig. Erinnerungen an THE TANGENT werden dabei wach und diese Erinnerungen durchziehen oftmals das komplette Album. Aber auch bei THE TANGENT ist TILLISONs Gesang immer ein wenig der Pferdefuß – genauso wie auf dieser „Sanctuary“-Konzeptscheibe, was bereits bei „Spirit Of Decadence“ deutlich wird. Hinzu kommt noch, dass die Texte mal wieder so etwa jedes versponnene Prog-Klischee befriedigen und geistig-religiös vor sich hinonanieren. Und wenn dann auch noch eine Dame operettenhaft bei „Spirit Of Decadence“ ein paar Töne herausschmettern darf, ist das wirklich, rein tonal betrachtet, dekadent!
Bei „Memories Of A Wedding“ oder „The Dance Of The Sacred Elves“ spazieren dann RICK WAKEMAN und KEITH EMERSON Hand in Hand durch das von ALEX CARPANI geschaffene CD-Heiligtum. Solche Momente gehören insgesamt zu den Höhepunkten von „The Sanctuary“. Ähnlich wohl auch wie das schöne Cover, von dem ich als Kritiker nichts zu Gesicht bekam, weil ich ja schließlich „nur die Musik“ besprechen soll. Ich finde solche Einstellung zwar Scheiße, aber was soll’s. Zumindest ist das Cover wieder von PAUL WHITEHEAD, dem Haus- und Hof-Maler von GENESIS, vielen Neo-Prog-Bands und Co. Auch hier erfüllt CARPANI das Klischee! Rundum ein progressives Klischee-Album mit völlig belanglosem Gesang, dafür aber sehr gut und fett in Finnland produziert. Das allerdings ist der einzige Vorteil gegenüber dem Vorgänger „Waterline“!
FAZIT: Gute Kompositionen voller progressiver Feinheiten treffen auf ein mittelmäßiges Text-Konzept, das auch noch gesanglich unter Mittelmaß umgesetzt wird, wobei auch die gute Produktion nichts mehr ausrichten kann. Als Instrumental-Album hätte „The Sanctuary“ von mir 3 Punkte mehr erhalten!
Punkte: 7/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 17.12.2010
Fabian Spiga
Alex Carpani
Ettore Salati
Alex Carpani
Gigi Cavalli Cocchi
Ma.Ra.Cash Records
51:55
30.10.2010