Wenn man mir eine Knarre vors Gesicht hielte und mich zwänge, sofort meine 20 Lieblingsalben zu nennen, würde ich schweißgebadet, mit viel Ach und Weh, zu einer Liste kommen, in der nur eine Band zweimal vertreten ist: Anacrusis mit ihren Alben Nr. drei und vier, „Manic Impressions“ und „Screams And Whispers“. Auf beiden Scheiben sind hoch emotionale, kreative Explosionen zu hören, Musik für Musikliebhaber statt Konsumenten. Für die wenigen Menschen, die trotz – oder wegen – des schnelllebigen Überangebots kultureller Schablonen das Besondere suchen und die notwendige Aufmerksamkeitsspanne haben, Musik zu erschließen, in ihr aufzugehen.
Die ersten beiden Scheiben zeigten zwar bereits die Genialität der Band, litten aber unter schlechtem Sound und schlampigem Handwerk, was die Band freilich immer genauso sah. Also hat man sich rund um die Live-Reunion entschlossen, beide Scheiben komplett neu einzuspielen, wobei sogar noch ein bisher unveröffentlichter Song ausgegraben wurde. Ansonsten war man sensibel genug, die Finger von den Stücken zu lassen, sie wurden nicht merklich verändert. Das ist auch nicht nötig, denn auf „Hindsight“ zeigt sich tatsächlich noch deutlicher als auf den Originalaufnahmen, was für großartige Songs schon auf „Suffering Hour“ und „Reason“ standen. Stücke wie „Present Tense“, „Terrified“, „Wrong“ oder „Killing My Mind“ sind nicht nur zeitlose Klassiker, sie sind auch über 20 Jahre nach ihrer Veröffentlichung noch ihrer Zeit voraus und nach wie vor vom ersten bis zum letzten Ton völlig unverwechselbar.
Um die Entscheidung zu erleichtern, ob man diese Doppel CD nun haben muss, will ich versuchen, die Sache erst einmal so weit als möglich „objektiv“ zu betrachten.
Und objektiv klingt das Ganze tatsächlich viel besser als die Originale, wenn auch – schon durch hörbar digitale Aufnahmetechnik – nicht das beinahe audiophile Klangerlebnis von „Screams And Whispers“ erreicht wird. Und ebenso objektiv spielt die Band, vor allem Original-Schlagzeuger Mike Owen, wesentlich tighter. Es zeigt sich aber auch mal wieder, dass der Schlagzeuger der eigentliche Chef einer Band ist, mit ihm steht und fällt das Zusammenspiel. Und da kann Mr. Owen auch heute nicht mal ansatzweise an Chad Smith („Manic…“) oder Paul Miles („Screams...“) klingeln, was manchmal etwas wehmütig stimmt. Denn wenn der Schlagzeuger nicht voll auf den Punkt kommt, tut es automatisch der Rest der Band auch nicht. Trotzdem ist das spielerische Niveau in Ordnung und ganz sicher kein Ärgernis, das einzige Problem ist der Maßstab, den die Jungs mit den anderen Schlagzeugern selber gesetzt haben.
Subjektiv muss man dann noch entscheiden, ob man es nun als Sakrileg empfindet, Songs überhaupt neu einzuspielen. Leute, die das so sehen, soll es ja geben. Da ich kein Dogmatiker bin, fälle ich hier ein deutliches Urteil: Die neuen Versionen sind den alten in fast jeder Beziehung überlegen. Lediglich das Ungestüme, die Wildheit, das hysterisch Unvollkommene fehlt irgendwie – vielleicht das Ergebnis des Alters und durchdachteren Herangehens.
Die eigentliche Frage lautet am Ende des Tages natürlich: Ist die Magie noch da? Von mir gibt’s ein klares Ja. Schon nach Sekunden hat man die Unterschiede zu den vertrauten Versionen und die kleinen Meckereien ausgeblendet, erfreut sich an den Verbesserungen und wird tief hinein gezogen in den wunderbaren Strudel aus Aggression und Melodie, Riffs und Hooks, Weltschmerz und Seelenqual, den eben nur Anacrusis liefern können.
Bleibt abzuwarten, ob ich bald vier Anacrusis-Scheiben in den Top 20 habe.
FAZIT: Ob ich mir von dieser Besetzung ein neues Album wünschen soll, weiß ich garnicht. Aber haben sie die Re-Recordings gut hinbekommen? Ja, das haben sie, denn abgesehen von einem minimalen Energieverlust werden die Neueinspielungen den Songs viel besser gerecht und lassen Details entdecken, die auf den Originalen im Mumpf untergingen. Außerdem gehört diese grundsympathische Band unterstützt, denn wenn es eine Gerechtigkeit im Musikgeschäft gäbe, müssten sie viel populärer sein. Vielleicht hilft „Hindsight“ ja ein bisschen dabei.
Punkte: 15/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 16.05.2010
John Emery
Kenn Nardi
Kenn Nardi, Kevin Heidbreder
Mike Owen
Eigenproduktion, Vertrieb über CDBaby.com
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2010