Eine Tautologie führt den Weg in absoluten inneren Frieden. "We're Here Because We're Here" – wir sind hier, weil wir hier sind. Es hat einen Schlag von Agnostizismus, wenn ANATHEMA auf ihrem Comeback über das Wesen und den Sinn des Lebens philosophieren. Kein Wort, weder in noch zwischen den Zeilen, verlieren die Briten über die Zeit ihrer Abwesenheit, über kommerzielle Nichtigkeiten wie nicht vorhandene Plattenverträge. Sie tun, was sie immer getan haben: Sie erschaffen ihre ureigene Atmosphäre. Aus ihrem eigenen Selbst heraus, wie das neue Album entlarvt.
ANATHEMA sind mehr denn je personifiziertes Seelenbalsam. Dass sich ein Gefühl der Geborgenheit einstellt, wenn man ihrer Musik zuhört, gehört zu ihren Besonderheiten. Inzwischen, so viel hat sich geändert, eignet man sie sich mit den ersten Klängen an, ohne sie erarbeiten zu müssen: mit tatkräftiger Unterstützung von Steven Wilson, der eine äußerst zugängliche Abmischung beisteuerte, funktioniert "We're Here Because We're Here" auf Anhieb. Die Rezeptur des Albums: aus brüchigen, mühsamen ersten Takten, die von Vincent Cavanaghs Stimme nur noch verletzlicher gemacht werden, formen sich alsbald unverhofft mächtige Monumente, die mitnichten von böse gestimmten Gitarren alleine errichtet werden, sondern zu gleichen Teilen auch von wallenden Keyboardteppichen und variablen Schlagzeugwellen. Schon "Thin Air" ist ein solches Monument, steigert es sich als Opener doch orgiastisch und besingt dabei die Annäherung an das Unerreichbare; "Summernight Horizon" wechselt anschließend Traurigkeit und Düsternis fließend miteinander ab.
Überhaupt ist das Fließende ein ständiger Begleiter. Nicht weniger als meisterhaft ist es, wie "Angels Walk Among Us" mit Cavanaghs Gesang (und Ville Valos [HIM] Backing Vocals, man möge davon halten, was man möchte… aber hey, es funktioniert) sich in das melodisch ähnliche, aber langsamere "Presence" ergießt, das mit den weiblichen Vocals von Lee Douglas einen dramaturgischen Big Point schießt. Zuvor war Douglas bereits im Duett mit Cavanagh in der melancholischen Ballade "Everything" zu hören. Mit der Hymnenhaftigkeit von "A Simple Mistake" möchte man dann am liebsten selbst zerfließen, kann man die Schön- und Reinheit dieser Riffs doch kaum ertragen. Und schließlich ist das noch nicht alles - es folgt mindestens ein weiterer Höhepunkt. Wüsste man das zu diesem Zeitpunkt bereits, man würde vermutlich vor Verzücken explodieren.
Einzig das Stück "Get Off Get Out" hindert die Explosion an ihrer Entfaltung. Mit seiner exzentrischen Rhythmusuntermalung passt es gar nicht in den Schwung des Gesamtwerks, wodurch es fehl genug am Platz wirkt, um kurzzeitig aus der Urgewalt zu reißen, mit der ANATHEMA einen bis dahin in der Hand hatten. Umso brachialer schlägt dafür das Epos "Universal" ein und drückt die Faust wieder schmerzhaft zu. Es klingt leise an und wieder aus, doch dazwischen ergießt sich ein Meer aus Farben wie der letzte Erinnerungsstrahl kurz vor dem eigenen Tod, und inzwischen würde man sich wünschen, dass ANATHEMA den Soundtrack spielen, wenn man irgendwann mal selbst an der Reihe ist. "Hindsight", die instrumentelle Reminiszenz an den Vorgänger, geleitet das Album mit einem unwiderstehlichen Gitarrenmotiv in vielen Haushalten vermutlich in die Dauerschleife, denn wie könnte man es hier bei einem Durchlauf belassen?
FAZIT: ANATHEMAs Wiederauferstehung 2010 teilt viele Eigenschaften mit KATATONIAs "Night Is The New Day": Nicht unbedingt haben sich die Briten in ihrer Pause neu erfunden, aber das, was sie hatten, haben sie bis ins Unermessliche perfektioniert. Die Sehnsucht nach Größe und Universalität, nach absoluter Erkenntnis und totalem Bewusstsein fällt angesichts der vollkommen runden Kompositionen von "We're Here Because We're Here" sogar noch größer aus als bei den Schweden. So sieht Zeitlosigkeit aus.
Anmerkung: Neben der Standardvariante gibt es noch ein Doppel-Disc-Set, das auf einer zweiten Scheibe einen 5.1-Mix beinhaltet. Verpackt ist das Ganze als typisches kscope-Digibook mit 16-seitigem eingeklammerten Booklet in der Mitte und den beiden Discs jeweils auf der Innenseite der hochwertigen Verpackung.
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 11.06.2010
Jamie Cavanagh
Vincent Cavanagh, Lee Douglas (Lead), Daniel Cavanagh, Ville Valo (Backing)
Daniel Cavanagh, Vincent Cavanagh
Les Smith, Daniel Cavanagh
John Douglas
kscope
58:07
04.06.2010