Vor allem eines soll sich nach den – mir leider nicht bekannten – drei Vorgängerplatten bei ION DISSONANCE geändert haben: die Einführung eines Achtsaiters. Den ohnehin nicht rar gesäten Vergleichen mit MESHUGGAH wird damit weiterer Nährboden gestreut, denn was die Kanadier mit den Schweden verbindet, ist die unmelodische, auf den Nullton heruntergeeichte Basiserdung, wie sie in dieser Intensität nur die Tiefen einer spinnengliedrigen Gitarre erzeugen kann.
In den richtigen Händen erzeugt ein fast tonlos anmutendes Album durchaus seinen Reiz. Was nicht seine Melodien vorschickt, muss fast zwangsläufig seine Strukturen vorzeigen, und hier spielen ION DISSONANCE freigiebig alle Karten aus. Nicht unbedingt darf die technische Virtuosität der Herrschaften an der Schnelligkeit ihrer Finger festgemacht werden; "Cursed" ist zwar blechernes Chaos pur, was aber nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass es zugleich geordnetes Chaos ist. So viel auch pro Song, pro Minute, pro Sekunde passieren mag, es liegt nicht immer unbedingt an der Schnelligkeit des Spiels. Immer steckt auch ein wahnwitziger Plan dahinter und es bleibt stets genug Zeit, Höhepunkte vorzubereiten.
Einerseits kommen Eindrücke sich entfaltender Todesblumen mit metallischen, rotierenden Zackenblüten auf, die ein Feuerwerk aus blutroten Ergüssen hinter dem Augenlid aufleben lassen; andererseits verweigert sich "Cursed" vehement der Spontaneität solcher Bilder. Was ION DISSONANCE nämlich über das Gros der Szene erhebt, ist die Kontrolle, die sie über ihr Material ausüben. Während viele andere Bands Bemühen zeigen in dem Versuch, sich technischen Extremen anzunähern, sind die Kanadier Herr ihrer Ergüsse. "Cursed" funktioniert als Ganzes, das Herausstellen einzelner Merkmale wäre widersinnig. Wenn sich also tatsächlich etwas anbieten sollte, um die gnadenlose, aber nie blutrünstige Feingespinstarbeit anschaulich zu machen, muss man schon etwas vom Schlage der M.C. Escher-Lithographie "Relativität" ausgraben: man sollte sich "Cursed" als ein kaltes Gewinde aus geometrisch unmöglichen Figuren vorstellen, die chaotisch wirken, aber ineinander verkeilt ein Muster ergeben, das einen gewissen Sinn birgt. Ähnlich wie Eschers Treppen treffen sich die einzelnen Stücke an Eckpunkten und drehen sich ungeachtet aller Naturgesetze um 180 Grad, um ein paar Schritte weiter wieder auf eine neue Umkehrung der Struktur zu stoßen.
Mit dem hochklassigen strukturellen Niveau der Platte kann einzig der Gesang von Kevin McCaughey nicht ganz mithalten, der sich bei seinem zweiten Einsatz nach "Minus the Herd" (2007) zwar erfolgreich um Abwechslungsreichtum in der Scream- und Shouttechnik bemüht, die er stets den Höhen und Tiefen sowie dem Tempo der Songs anpasst, der dabei aber trotzdem unliebsame Assoziationen zu x-beliebigem Metalcore-Allerlei weckt. Die Qualität der Textinhalte ist mangels akustischen Verständnisses und aufgrund von nicht vorliegenden Texten leider nicht überprüfbar, aber die wenigen Brocken, die zu vernehmen sind, Songtitel inklusive, lassen es als gute Idee erscheinen, doch eher die dissonanten Rhythmen zu den Eckpfeilern des Albums zu ernennen.
FAZIT: Schier endlos reichhaltige musikalische Mise-en-abyme, die dank ihrer zahllosen mathematischen Details über Monate hinweg zu beschäftigen vermag. Die technische Raffinesse überzeugt ebenso wie die Übersicht, die jedes Rädchen ineinander greifen lässt und "Cursed" erst so glaubwürdig macht. Sicher, die Gesangsposition ist ein Streitpunkt und dass man sich bei aller Qualität letztendlich bloß MESHUGGAH auf einer exponentiell ansteigenden Linie nähert, ohne sie je zu erreichen, anstatt sich einer musikalischen Leerstelle anzunähern, mit deren Erreichen man Pioniergeschichte schreiben könnte, ist fast schon desillusionierend. Dennoch: ein derart gekonnter Einsatz der eigenen Fähigkeiten ist selten geworden.
Punkte: 11/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 08.09.2010
Yannick Desgroseillers
Kevin McCaughey
Antoine Lussier, Sebastien Chaput
Jean-François Richard
Basick Records
48:42
23.08.2010