Zurück

Reviews

Jester's Funeral: Fragments Of An Exploded Heart

Stil: Metal ohne Schablone

Cover: Jester's Funeral: Fragments Of An Exploded Heart

„Fragments Of An Exploded Heart“ ist nicht nur eins der bestgehüteten Geheimnisse des Metal, es dokumentiert auch einmal mehr die Wirkweise von Kapitalismus – man kann es nicht oft genug klar machen. Bietest du ein bekanntes, verkaufsträchtiges Format, das am besten in jeglicher Hinsicht der Schablone entspricht, schon einen möglichst klangvollen Namen hat und am besten noch ein schickes Image, dann steigen die Chancen erheblich, einen Plattenvertrag zu bekommen. Weichst du aber in irgendeinem Punkt ab, wird ein findiger Marketing-Stratege dir wahrscheinlich erklären, dass der Werbeaufwand, um so etwas „am Markt zu platzieren“, ungleich höher ist und sich bei der zu erwartenden Auflage einer solchen Scheibe nicht rechnet.

So oder ähnlich muss sich der Stuss angehört haben, den sich die Siegener 2006 anhören mussten, denn es fand sich für das – soviel vorweg: fantastische – vierte Album kein Label. Schon vorher wurden sie mit jeder Scheibe besser, lieferten mit „Shifting:Skywards“ 2003 ihr Gesellenstück ab und wollten dann ihr Magnum Opus nachschieben. Nun, Pustekuchen.

Doch worin genau liegt der Grund für das Scheitern bei der Labelsuche?

Zunächst produziert man Metal nicht so. Jedenfalls nicht mehr, denn die Jungs waren offenbar bemüht, die Scheibe so trocken, direkt und live wie möglich klingen zu lassen. So war es ja auch mal gedacht, als Antithese zu glatt gebügeltem, aufgeplustertem, gleichgeschaltetem Pop-Schrott. Es findet sich grundsätzlich sehr wenig Hall auf allem, man hat das Gefühl, die Band stehe vor einem im Wohnzimmer. „Abweichung Nr. 1“ geht dabei aber kein Stück zulasten der Wucht, denn die Gitarren und auch das Schlagzeug klingen mörderfett und klatschen einen schön an die Wand. Klanglich ist „Fragments...“ also anders, aber absolut professionell und jede Empfehlung wert.

Kommen wir zu „Abweichung Nr. 2“, dem Hauptteil, der Musik. Hier mischen die Jungs munter drauf los und jagen den Hörer von Riffs der 80er-Schule bis zum tief gestimmten Modern-Metal-Gebrate heutiger Tage, von feinsinnigen Melodien bis zur massiven Wand, vor und zurück durch die Metal-Historie. Wer nun glaubt, dass Nevermore (mächtiger Riff-Druck), (mittlere) Flotsam And Jetsam (locker flockiger Swing), Lillian Axe (komplexe Gesangsarrangements) und Korn (fetter Groove) einander niemals unfallfrei in ein und demselben Song begegnen können, der irrt gewaltig.

Denn hier liegt das eigentliche Genie der Band. Sie bedient sich genreübergreifend und quer durch die Jahrzehnte, doch gehen all diese Elemente vollkommen logisch in ihrem Stil auf und verschmelzen zu absolut stimmigen und hundertprozentig eigenständigen Songs voller Hooks und Ohrwürmer. Womit wir beim Sänger wären, der die Vielfalt mit seiner unverwechselbaren Melodik nicht nur zu einem wunderbaren Ganzen zusammenfügt, sondern durch seine überaus aufwändigen, oft mehrstimmigen Arrangements auch für Killermelodien en gros und eine enorme Hitdichte sorgt. Der Mann klingt wie James Hetfield mit formaler Gesangsausbildung und ist mittlerweile bei Van Canto, er weiß also, wie es geht. Wer bei Stücken wie „Silent Crickets“, „Brittany“, „Miss Singularity“ oder „Six Kinds Of Darkness“ nicht vor Verzückung durchdreht, mag vielleicht Bushido oder Andy Sneap toll finden, jedem mit einer Affinität zu echter – im Sinne von unverfälschter – Musik müsste das Herz aufgehen. Wer noch einen Orientierungspunkt braucht, dem seien die letzten beiden Morgana Lefay-Scheiben genannt, obwohl auch dieser Vergleich hinkt.

JESTER’S FUNERAL reihen sich ein in die Riege der Hammerbands, denen aus kommerziellen Gründen der kommerzielle Durchbruch verwährt blieb, um es mal so auszudrücken. Nach Monaten der Labelsuche entschied sich die Band daher, die Platte zum kostenlosen Download anzubieten und anschließend die Segel zu streichen, ein käuflich zu erwerbender Tonträger hat also nie existiert.

Update 5.9.2015: Nachdem es von der Truppe eine Weile weder Bild noch Ton im Netz gab, sind inzwischen sämtliche Scheiben auf "Name Your Price"-Basis via Bandcamp erhältlich (siehe obiger link). Da solltet ihr nun alle mal vorbeischauen, liebe Kinder. Sonst verpasst ihr was!

FAZIT: Ein mutiger Sound und eine nicht ganz eindeutige Verortbarkeit – das scheint JESTER’S FUNERAL zum Verhängnis geworden zu sein. Nichtsdestotrotz ist „Fragments...“ unzweifelhaft ein Meisterwerk, eine Zierde für jeden Plattenschrank und eines der am dramatischsten unterbewerteten Alben aller Zeiten. Noch Fragen?

P.S.: Wo wir schon beim Update sind - die Punktzahl wurde aufgrund der Langzeiterfahrung korrigiert.

Punkte: 15/15

Erschienen auf www.musikreviews.de am 30.09.2010

Tracklist

  1. The Exploded Heart
  2. Silent Crickets
  3. Therefore I Am
  4. The Almost Empty Rooms
  5. Morons At The Speed Of Light
  6. Mirrorball Man
  7. Brittany
  8. Connoisseur Of Chaos
  9. Miss Singularity
  10. The Hollow Men
  11. Spelled In Waters
  12. Six Kinds Of Darkness
  13. Wolves Of The Plateau
  14. Cram

Besetzung

  • Bass

    Daniel

  • Gesang

    Stefan

  • Gitarre

    Stefan, Marten

  • Keys

    Nik

  • Schlagzeug

    Bastian

Sonstiges

  • Label

    Eigenproduktion

  • Spieldauer

    54:35

  • Erscheinungsdatum

    30.09.2006

© Musikreviews.de