Es ist schon beeindruckend, wenn man sich vor Augen hält, dass John Cale bereits seit über 45 Jahren im Rock-Geschäft tätig ist. Seine ersten größeren Schritte in der musikalischen Öffentlichkeit machte Cale mit VELVET UNDERGROUND, eine der ersten Avantgarde-Rock-Bands, die bereits in den Sechzigerjahren verblüffend experimentell zu lärmen verstanden. An der Seite seines in der Zukunft deutlich erfolgreicheren Bandkollegen Lou Reed hielt es John Cale unter der Fittiche von Pop-Art-Ikone Andy Warhol bis 1968 aus, bis er die Band schließlich verließ, um seine ersten Versuche als Solo-Künstler zu wagen. Ganze 22 Jahre später tat sich Cale übrigens ein weiteres Mal mit Lou Reed zusammen, um das äußerst berührende „Songs For Drella“ einzuspielen, das eine Hommage an den drei Jahre zuvor verstorbenen Andy Warhol darstellte und melancholische Trauer mit trockenem Humor zu einem wunderbaren Nachruf vereinte.
Auf mehr als wahnwitzige vierzig Veröffentlichungen hat es John Cale bis zum heutigen Tag gebracht. Da bieten die Rockpalast-Auftritte aus den Jahren 1983 und 1984 eine günstige Gelegenheit, durch einen unglaublich langen Zeittunnel voller Veröffentlichungen einen Blick zurück zu werfen auf die beiden Konzerte in Bochum und Essen, die mit ihrem typischen Achtzigerjahre-Look (Das Publikum! Die Frisuren! Die Kleidung!) herrlich anachronistisch anmuten.
DVD Nummer 1 zeigt John Cale überwiegend in klassischer Rock-Besetzung. Der Waliser macht es dem Publikum nicht leicht: Punkig lärmend, exaltiert schreiend und seelisch aufgewühlt reißt Cale seine Songs herunter. Gewohnte Stücke werden strukturell zerstört und zu schwer bekömmlichen Monstern neu zusammengebaut. Zwar bietet Cale dem Publikum genug Gelegenheit, zu mitreißenden Rocknummern abzugehen, doch versöhnlich ist an dieser wütenden Performance nichts. Neben vielen Klassikern konzentriert sich Cale auf sein 83er-Werk „Carribean Sunset“ und gibt mit „Waiting For The Man“ auch einen VELVET UNDERGROUND-Klassiker zum Besten.
DVD Nummer 2 zeigt den vielseitigen Künstler ruhiger und introvertierter. Mit Piano und Gitarre interpretiert Cale seine Songs in minimalistischem und oftmals fremdartigem Gewand. Bereits 1983 wurde hier angedeutet, was 1992 in Form der „Fragments Of A Rainy Season“ in absoluter Perfektion entstand. John Cale durchlebt und durchleidet seine Songs am Piano. Dabei entsteht keine Anleitung zum Tränenvergießen, sondern ein mitreißendes, zu hundertprozentig kitschbefreites Emotionsfeuerwerk. Grandios, wie der einsame Mann auf der Bühne aus seinen traurigen Noten ausbricht und sich wie ein Wahnsinniger die Seele aus dem Leib brüllt. Das Beste daran ist, dass Cales Darbietung nicht die eines kapriziösen Intellektuellen ist, sondern eines schrankenfreien Musikers, der frei von jeglichem Wirkungskalkül einfach das tut, wohin seine Intuition ihn grad zu treiben scheint.
FAZIT: Auch, wenn Bildqualität und Sound nicht aktuellen Hochglanz-Standards entsprechen: „Live At Rockpalast“ stellt ein Fenster in die Vergangenheit eines faszinierenden Künstlers dar, durch das nicht nur Nostalgiker einen ausführlichen Blick werfen sollten.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 26.05.2010
Andy Heermans
John Cale, Dave Young, Andy Heermans
John Cale, Dave Young
Dave Lichtenstein
John Cale (Piano)
MIG
161:00
30.04.2010