Schreiber überschlagen sich mit Superlativen, wenn es um die kalifornische Band NEUROSIS geht. Man spricht von „großen Emotionen“, von „Kunst“.
Niemand hat behauptet, dass man dem Urteil von hunderten von verblendeten Kritikern glauben sollte, die sich damit rühmen, ein NEUROSIS-Album zu besprechen, nur um es mal mit den Adjektiven richtig krachen zu lassen. Niemand hat behauptet, dass man überhaupt erst über diese Band schreiben sollte.
„Emotionen“? Wenn damit die Qualen gemeint sind, die man mit jedem Riff, mit jedem Ton, der sich wie ein überdimensionaler Zahnarztbohrer ins Fleisch dreht, durchleidet, dann ja.
„Kunst“? Wenn damit eine Kunst gemeint ist, die in ihrer bodenlos nihilistischen Art alle bisherigen Ideologien wie Staub zerfallen lässt und eher zum Ausschalten als zum Genießen animiert, dann ja.
NEUROSIS erschufen mit ihrem 96er Werk „Through Silver In Blood“ ein düsteres Monument, dass heute noch Pate für viele „Postmetal“-Alben steht. Langatmige Spannungsbögen mit plötzlichen Ausbrüchen, die in kathartische Finale münden. Eine Formel, die sich NEUROSIS patentieren lassen könnten. Das tun sie aber nicht, weshalb es heute viele Nachäffer gibt, die genauso schnell wieder verschwinden, wie sie gekommen sind.
Gerade zu der Zeit, in der sich die Frage stellte, wie es nach „Through Silver In Blood“ weitergehen sollte, veröffentlichte die Band ihr heimliches Meisterwerk. „Times Of Grace“ ist ein Geheimtipp unter Fans, und jeder Song dieser Scheibe wird abgöttisch verehrt.
Ich verfalle in Rezensenten-Jargon.
Nein, ich schreibe nicht, dass dieses Album „düster“ ist, dass es Doom- und Sludgeelemente enthält und auch nicht, dass der Sound roher und kantiger geworden ist. Was sagen Wörter (Worte?) wirklich über eine Platte aus, die man sich in Wahrheit unmöglich am Stück anhören kann?
Wenn man es unvorbereitet versucht, wird man unweigerlich den Stop-Knopf drücken. Ich schrieb zu „Given To The Rising“, dass das Kellergewölbe von Beelzebub ein Kinderzimmer im Vergleich dazu sei. Diese Aussage soll nochmals unterstrichen werden, denn das Brutalitätsniveau liegt jenseits aller Metalparameter von Schnelligkeit, Härte oder Lautstärke. „Times Of Grace“ IST laut, verdammt laut sogar. Und der Gitarrensound ist so zerstörerisch und dissonant, dass jegliche Black-Metal-Operetten dagegen wie High-School-Musicals anmuten. Aber NEUROSIS erzeugen Brutalität durch ihre Kompromisslosigkeit, die sie ohne Rücksicht auf den Hörer durchziehen. Da werden schon mal tiefergelegte Riffs in Endlosschleifen wiederholt, bis man Kopfweh bekommt. „End Of The Harvest“ treibt es sogar so weit, dass gegen Ende jeder Akkord des Hauptmotivs ein dutzend mal auf den Hörer gehämmert wird, als wollten NEUROSIS im Wahn die kranke Melodie in das traktierte Hirn stopfen.
Warum nun dieser Review? Es ist weniger eine Empfehlung an Nicht-Fans, auch keine Litanei aus Superlativen oder eine Beschreibung der Musik. Dieser Review soll all jenen die verschlafenen Äuglein öffnen, die NEUROSIS bisher mit wohlwollendem Kopfnicken und dem freudigen Hintergedanken „das ist große Kunst, deshalb ist es gut“ gehört haben. Beethoven ist große Kunst, Chopin ist Kunst, Arvo Pärt ist Kunst. NEUROSIS liefern „nur“ ein unglaublich homogenes Gesamtpaket ab, was Lyrics, Musik und Artwork anbelangt. Und es ist „nur“ eine große Leistung, Rockmusik an eine Grenze zu treiben, wo Schmerz und Qual beinahe physisch spürbar werden und eine fast transzendente Wirkung auf akustischer Ebene ausüben.
FAZIT: Einzelne Songs zu zerpflügen, oder die Performance der beteiligten Mannen zu bewundern, ist nicht das Ziel dieses Artikels. Das Ziel ist, NEUROSIS als das zu betrachten, was sie sind: Keine Michelangelos oder Stravinskis, sondern Rockmusiker, die diesen ganz speziellen Teil, der in jedem von uns steckt, zum Schwingen bringen und in Töne und Geräusche verwandeln. Mehr ist es nicht. Es ist nicht mal Unterhaltung. Das stampfende „Doorway“ auf einer Studentenparty? „The Last You’ll Know“ in den Kopfhörern eines Gymnasiasten, der sich wegen seiner Sechs in Mathe in Frustration verbeißt? „Belief“ als Begleitmusik für den Teeabend mit Freundinnen? Vergesst es!
NEUROSIS bieten das an, was man vielleicht eine Katharsis nennen könnte. Wer bereit dafür ist, sollte diesem Undergroundphänomen ein Ohr schenken. Wer dem verfällt, wird sowieso von jedem einzelnen Ton dieser Platte verfolgt. Da bin ich mir sicher.
ANMERKUNG: Das NEUROSIS-Alter-Ego TRIBES OF NEUROT brachte parallel zu „Times of Grace“ die CD „Grace“ heraus. Bei TRIBES OF NEUROT handelt es sich um nichts weiter als um die gleiche Band, deren musikalisches Konzept nur aus einer anderen Perspektive gesehen wird. Schwebende, meist verstörende Ambientsounds und Geräuschkulissen, durchbrochen von monotonen Droneklängen, bauen auf „Grace“ eine ähnliche morbid-düstere Stimmung auf. Spielt man „Grace“ parallel zu „Times of Grace“ ab, tut sich dem Hörer plötzlich eine überraschende, neue Dimension auf. Beide Alben sind soundtechnisch aufeinander abgestimmt und ergänzen sich perfekt. Es ist, als würde man dem einheitlichen Schatten leichte Nuancen verleihen, die ihn noch faszinierender und bedrohlicher machen. Eine Kombination beider CDs ist also nicht nur empfehlenswert, sondern sogar notwendig.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 18.03.2010
Dave Edwardson
Scott Kelly, Steve von Till
Scott Kelly, Steve von Till
Noah Landis
Jason Roeder
Neurot Recordings
66:07
04.05.1999