Zwei Jahre nach ihrem „Cinnemanemico“ betitelten, Live eingespielten und selbst produzierten Debüt, präsentieren NICHELODEON ihr erstes Studioalbum „Il Gioco Di Silenzio“ (Das Spiel des Schweigens“).
Einmal mehr zeigen sich die Italiener als Erben von DEVIL DOLL und DIAMANDA GALAS. Musik die die Grenzen des Rock sprengt; NICHELODEON spielen eine wüste und mitunter anstrengende Mischung aus dunklem, experimentellem Rock – mit deutlichen Bezügen zu VAN DER GRAAF GENERATOR und KING CRIMSON, Commedia dell' Arte, Folk, Chanson und Klassik. Versetzt mit kakophonischen Ausbrüchen, sowohl instrumentaler wie vokaler Art. Zwischen Free Jazz und DEMETRIOS STRATOS. Claudio Milano singt, hechelt, flüstert, schreit, als ginge es um sein Leben. Vielleicht tut es das ja auch.
Das ist keine Musik für den beiläufigen Genuss; sie fordert ihre Hörer, führt hinein in einen tosenden Strudel und wieder heraus. Momente brachialer Härte – weit entfernt von jeder Form von Metal – wechseln sich ab mit leisen, lyrischen Passagen. Manchmal trifft auch beides zusammen.
Was da mit harschen Saxophonschüben beginnt, kommt daher wie ein spät geborener, von der Leine gelassener Sprössling von KING CRIMSONs „Lizard“, dem man den Rock’n Roll weitgehend ausgetrieben und durch etwas anderes ersetzt hat: das Streben zum multimedialen Gesamtkunstwerk.
Wie ernst es NICHELODEON damit ist, zeigt die gleichzeitig erschienene DVD „Come Esta Annie“, die sich zur Hälfte aus einem Konzertmitschnitt zur aktuellen CD und der „Passagio Nella Loggia Nera – Twin Peaks Live Soundtrack“ zusammensetzt. Während im ersten Teil selbst gedrehte Filmausschnitte zwischen Psychedelik und Surrealismus über die Leinwand flimmern, ist die „Reise in die Schwarze Hütte“ eine Performance zum 20-sten „Twin Peaks“-Jahrestag. Begleitet von Ausschnitten der TV-Serie, die mit der Frage „Wie geht es Annie“ („Come Sta Annie?“) endete, spielt die Band um Claudio Milano ihre ganz eigene Interpretation des Soundtracks. Das hat nichts mit dem hinterlistigen Wohlklang des ANGELO BADALAMENTI-Originals gemein: Hier herrscht Bob; jenes Böse, dessen kinematografische Präsenz NICHELODEON mit schneidenden Tönen feiern. Oder betrauern.
Lediglich die eingesungene „Sycamore Trees“-Version weist so etwas wie Songstruktur auf. Ganz schwere Kost. Wobei der „Il Gioco Del Silenzio“ Konzertauszug etwas leichter zu goutieren ist. Aber auch hier behält das Wilde, Raue, Experimentelle die Oberhand. Behagliches Zurücklehnen sitzt nicht drin; angespanntes Staunen schon eher.
FAZIT: Nahezu 80 Minuten Musik, die erarbeitet werden wollen. Wer die Geduld aufbringt wird belohnt mit einem Album, das von Hördurchgang zu Hördurchgang wächst, sich verändert, neue Facetten aufweist und eine ungestüme Gratwanderung zwischen Schönheit und Grauen zelebriert.
Das feine Booklet liefert eine englische Übersetzung der Texte, sodass man auch lesend begleiten kann, wie laut das „Spiel des Schweigens“ vonstatten geht.
Die „Come Sta Annie“-DVD gibt dem Soundtrack zur Panikattacke dann zusätzliches visuelles Futter. Alles andere als eine wohlklingende ANGELO BADALMENTI- und DAVID LYNCH-Hommage zeigt die „Twin Peaks 20th anniversary show“ eine höchst eigene Interpretation des Lynchschen Universums. Und liefert den endgültigen Beleg, dass die „Black Lodge“ mitten in der Hölle liegt.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 21.10.2010
Max Pierini
Claudio Milano, Carola Caruso (2, 6), Estibaliz Igea (5)
Lorenzo Sempio, Claudio Pirro (classical guitar 1,2), Luciano Margorani (4)
Andrea Illuminati, Luca Pissavini, Luca Olivieri (3, 11), Marco Tuppo (11)
Andrea Murada
Francesco Chiapperini, Andrea Murada, Max Pierini, Luca Pissavini, Stefano Delle Monache (6)
Lizard
78:50/83:44
15.09.2010