Abstoßend, verstörend, nervenzerrend und wunderschön ist „Henry’s Dream“. Alp- und Tagtraum in einem, Gefühlskino und fordernde Poesie eng verdichtet auf 40 Minuten Musik, von der manch einer nicht einmal die ersten zehn Minuten überstehen wird. „Papa Won’t Leave You, Henry“ und „I Had A Dream, Joe“ halten einem oberflächlichen Hinhören nicht stand und verschrecken den schöngeistigen, auf pure Harmonie fixierten Artgenossen. Wie ein manischer, perverser Irrer durchlebt Nick Cave die ersten beiden faszinierenden Songs mit einer Stimme, die von wüster Gefühlswelt getrieben die hektisch schrammelnde, beinahe punkige Instrumentierung dominiert. Cave ist ein Meister der gewaltigen, brutalen Worte, die von seinem all umfassenden Bariton rücksichtslos ins Herz des Hörers getrieben werden.
Die nachfolgenden Stücke lassen es ruhiger angehen. Weniger Verzerrung, weniger Hektik und trotzdem kein Easy-Listening. Wie ein wahnsinniger Priester singt Nick Cave von seiner schwarzen Kanzel herab. Biblische Themen, Apokalypse, Isolation und Wut auf das menschliche Scheitern („stench of human corruption“) beherrschen die Songs. „Henry’s Dream“ stellt jedoch keine geifernde Hetzrede dar gegen die Fehlbarkeit der Menschheit. Im Gegenteil, die sanften, schmeichelnden Hammonds von „Christina The Astonishing“ bergen ein Versprechen von Linderung. Die epischen Spannungsbögen der Mörder-und-Liebes-Ballade „John Finn’s Wife“, die im harmonisch-erzählenden Finale mit Chören gipfeln, suggerieren eine Schönheit, die auch in unseren dunkelsten Momenten schimmert und strahlt.
Besonders deutlich tritt diese Ambivalenz beim vielleicht ergreifendsten Song des Albums hervor: „Loom Of The Land“ ist ein Liebeslied. Doch Nick Cave und seine Band breiten die melancholische Schönheit der tiefsten Zuneigung sowohl textlich, als auch musikalisch, vor der Dunkelheit eines untergehenden Zeitalters aus - das mag aufgeblasen, regelrecht größenwahnsinnig klingen, doch genau diese Gewaltigkeit der Bilder wirkt hier unglaublich authentisch. Das ist kein Kitsch, sondern Kunst.
FAZIT: „Henry’s Dream“ gehört zu den wichtigsten Meilensteinen in der Discographie dieser außergewöhnlichen Band und verbindet das Ruhige des Vorgängers „The Good Son“ mit der wilderen Vergangenheit der Bad Seeds. Dass auch dieses Re-Release einen wunderbaren, räumlichen 5.1-Surround-Mix plus zwei Videoclips und Live-Bonus-Tracks auf einer Extra-DVD enthält, verkommt hier beinahe zur Nebensache.
Als weitere Dreingabe befindet sich auf der DVD noch der siebte Teil der Dokumentation „Do You Love Me Like I Love You“, auf welcher die Band selbst und Personen aus dem Umfeld der Band ihre heutige Sicht auf das Album schildern.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 04.04.2010
Martyn P Casey
Nick Cave
Mick Harvey, Blixa Bargeld
Thomas Wylder
Conway Savage (Piano)
Mute/EMI
41:30
26.03.2010