"OCEANSIZE nur noch PUDDLESIZE", würde Deutschlands größte Boulevardzeitung angesichts der deutlich heruntergeschraubten Spielzeit titeln, wäre sie für den Feuilleton zuständig anstatt für Klatsch. Nur noch Normalspielzeit anstatt CD-Sprenger – ist das noch Prog? "Nope", würden Statistiker sagen. "Jep", würden Prog-Definitionen sagen. "Vielleicht", würden Stochastiker einräumen. "Waren Oceansize jemals lupenreiner Prog?" – würden dagegen sicher viele Musikreviews-Leser fragen.
Das Spiel mit dem Wandel und dem Wechsel, es gehört zu den Ozeanweiten wie Wellen, Sturm und sanfter Seegang. Laut und Leise sind in der Vergangenheit ganz zweifellos Stilmittel der Manchesteraner gewesen, dazu muss man sich nur das Nebeneinander von Songs wie "Music For A Nurse" und "Sleeping Dogs & Dead Lions" anschauen, oder einfach die letzte EP "Home And Minor", die im wahrsten Sinne des Wortes auf Einschlafmusik setzte. Jetzt kommt verstärkt das Spiel mit Kürze und Länge hinzu, als der längste Albumtitel auf das kürzeste Album trifft. Aber es war immer mehr als das Aufwiegen von Extremen im vielschichtigen Sound versteckt. Der Kniff liegt, und das zieht sich bis "Effloresce" zurück, in der Überkreuzung von Genres, von Stimmungen, von Strukturen. Sie machen OCEANSIZE wohl zur einzigen Progressive-Post-Rock-Alternative-Ambient-Hardcore-Punk-Emo-Death-Indie-Band der Welt.
Den Kniff beim vierten OCEANSIZE-Album zu entdecken, ist schwieriger denn je. Der Körper auf dem Cover täuscht: "Self Preserved While The Bodies Float Up" ist der bis dato körper- und formloseste Brocken, den die Briten ihrer Gefolgschaft jemals vorgesetzt haben. Die eigene Vorstellungskraft wackelt angesichts der neuen Platte und versagt letztendlich bei dem Versuch, sie in Bilder zu übersetzen. Was bislang so wunderbar funktionierte, selbst beim sperrigen "Frames", möchte nicht mehr klappen. Sicher, bei "Build Us A Rocket Then…" kommen einem Raketenwissenschaftler in den Sinn, bei "Oscar Acceptance Speech" ein um Fassung ringender Schauspieler und bei "It's My Tail And I'll Chase It If I Want To" ein junger Hund, der sich im Kreis dreht, die Frage ist aber doch: was haben Raketenwissenschaftler, Oscargewinner und junge Hunde miteinander gemein?
So unzugänglich die Symbolik ist, mit der OCEANSIZE ihre Texte abstrahieren, so wenig sollte man den Fehler begehen, sie vorschnell abzuschreiben: schon "Frames" reifte erst mit der Zeit, mit "SPWTBFU" wird es genauso laufen. Die Inhalte sind wie die ihnen zugehörige Musik: in der "Du"-Ansprache der meisten Texte klingen beißend zynische und anklagende Laute neben Poesie, Ironie und Melancholie an und der lyrische Schönklang wird regelmäßig von unverdaulichen Vokabeln verzerrt (-cunts with no face and zero grace exacerbate holes as wide as me, wide as the sea, sing in different keys-, "SuperImposer").
Den Zugang erleichtert das alles nicht gerade. Wer Musik daran misst, wie sehr man sich emotional mit ihr identifizieren kann, der muss in diesem Fall eigentlich fast schon zwangsläufig die Segel streichen. Und doch muss man in Teilen eingestehen: es ist streckenweise wieder großartige Musik. Jene, die von dem Ambient-Unfall "Home And Minor" entsetzt waren, dürfen sich vorsichtig wieder herantasten; "SPWTBFU" verzichtet zwar keineswegs auf die ruhigen Momente, sondern setzt sie durchaus in der Breite ein. Allerdings versprühen die sanften "Ransoms", "A Penny's Weight", "Pine" und "SuperImposter" trotz der gleichen mit gefühlten Glöckchen und Triangeln eingeläuteten Gutenachtatmosphäre nicht ganz dieselbe Uninspiriertheit, von der die EP geplagt war. Dieses Manko betrifft eigentlich nur den verzichtbaren Bonustrack "Cloak" von der Special Edition.
Was "SPWTBFU" aber eigentlich so schwierig macht, ist die Anordnung: alle bisherigen OCEANSIZE-Alben endeten dramaturgisch brillant in einem voluminösen Urknall von teils dramatischen Ausmaßen – das tragische "Long Forgotten" auf "Effloresce", das mit Kirchenorgeln und Noise-Attacken orgiastisch ausgeleuchtete "Ornament / The Last Wrongs" auf "Everyone Into Position" und das vom Kleinsten ins Allergrößte wachsende "The Frame" von "Frames". Die Anordnung der zehn neuen Songs dagegen scheint in einen Pulp-Fiction-Mixer geraten zu sein: "Part Cardiac" eröffnet und klingt mit seiner doomig-noisigen Grundausrichtung weniger wie ein Opener als vielmehr wie ein Zwischenspiel, das eine vorhergehende Powerphase wieder runterkurbeln soll. Die erste Textzeile lautet dabei ausgerechnet auch noch wie der Albumtitel: "Self Preserved While The Bodies Float Up". Die Powerphase folgt dagegen erst anschließend mit dem geradezu klassischen OCEANSIZE-Stück "SuperImposer", das ebenso gut auf jedem der anderen Alben hätte stehen können, sowie dem kantig-kubistischen "Build Us A Rocket Then…", das abgeht wie ein querschlagender Feuerwerkskörper. Der Höhepunkt, das Element, das eigentlich erst am Ende erwartet werden würde, folgt auf dem Fuße mit "Oscar Acceptance Speech", wohl das emotionale Highlight ausgerechnet dort, wo ein Satz wie "Thanks, Academy" fällt, den man kaum mehr anders als ironisch interpretieren kann. Dieses Stück hat alles: tolle Melodien, gekonnte Szenenwechsel, große Emotionen und dicke Streicher zum Abschluss. Die Szene mit dem roten Vorhang wird da vorverlegt auf die vierte Position.
Es folgt eine Phase mit viel Ruhe, jene eingangs angesprochene Phase, die "Home And Minor" vorbereitete. "Silent / Transparent" sticht dabei am meisten heraus, zumindest im "Transparent"-Teil. Und dann das irre Geprügel von "It's My Tail And I'll Chase It If I Want To" – hier wird die Euphorie (und der vorbeiziehende Wind) eines Übermütigen nachgeahmt, der durch die Straßen rennt und sich frei fühlt. Als wäre das alles nicht passiert, schließt "Pine" wieder an die ruhige Passage an, mit der "SuperImposter" eiskalt weitermacht und das (reguläre) Album beendet. Zugegeben: das ist insgesamt ein wenig zu viel der Ruhe, denn obwohl die Downtempoabschnitte wie gesagt ein wenig sinniger gefüllt werden als zuletzt, die eigentlichen Höhepunkte setzen OCEANSIZE woanders.
FAZIT: Keine weitere Erkundung neuer Gebiete, sondern eine Restrukturierung des bereits erkundeten Gebiets. Die Mitbegründer des neuen Manchester-Sounds haben mal ordentlich ausgerümpelt und alle Möbel neu angeordnet. Das Ergebnis ist schick, stilsicher und schaut verdammt teuer aus. Mit Ausruhen auf den eigenen Lorbeeren hat das nichts zu tun, da die Umdekorierungsarbeit ganz neue Früchte trägt. Man erwischt sich hier und da allerdings bei dem Gedanken, dass das meiste vielleicht schon zu steril geworden ist, um darin zu wohnen, zu verkopft, um sich darin wohl zu fühlen, und dass einige Teile des Designs, so hübsch sie auch sein mögen, irgendwie nichtssagend geworden sind. Ich für meinen Teil habe immer gerne in der Musik von OCEANSIZE gelebt, mich am Wohlklang von Vennarts Stimme in Kombination mit wunderbaren Melodien gelabt, die den Romantiker und den Zyniker in mir gleichzeitig kitzelten – "SPWTBFU" macht mir allerdings schmerzlich klar, dass die Musik von OCEANSIZE vor allem auch Kunst und Design ist. Und es im Grunde schon immer war. Schade, dass man in Kunst und Design nicht wohnen kann.
Eine Zahl folgt nun, die mein derzeitiges Wohlbefinden in Gegenwart der Platte ausdrückt, der man eine Veränderung mit der Zeit aber unbedingt zutrauen sollte. In Stein gemeißelt sind andere Dinge.
Punkte: 9/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 11.09.2010
Steven Hodson, Mike Vennart
Mike Vennart (Lead), Steve Durose (Backing), Claire Lemmon (Backing: "SuperImposer", "A Penny's Weight"), Simon Neil (Backing: "It's My Tail And I Chase It If I Want To")
Gambler, Steve Durose, , Steven Hodson, Mike Vennart
Steven Hodson, Gambler
Mark Heron
Semay Wu (Cello), Helen Tonge (Violine)
Superball Music
55:12
03.09.2010