KING CRIMSON einfließen lassen – aber wie? Möchte man die Andersweltlichkeit und das Fremdartige von „In The Court Of The Crimson King“ reKconstruieren [sic!] oder will man sich pragmatisch auf die metrisch-technoide Systematik neuerer Alben besinnen? Beides im Paket trifft man nur selten an.
Dem chilenischen Quartett ABRETE GANDUL gelingt diesbezüglich ein annähernd vierzig Jahre breiter Spagat. Die Aura der frühen 70er trifft auf die Dinosaurier-Fripp-Exzentrik von „Thrak“, „The ConstruKction Of Light“ und „The Power To Believe“. Damit erblüht auch gleich der Retro-Prog per se in neuer Frische: „Enjambre Sísmico“ ist eben nicht nur von Nostalgikern in ihren Fünfzigern zu genießen, es gibt auch einen Blick nach vorne.
Der jugendliche Leichtsinn einer Porsche-Fahrt mit James Dean am Steuer fehlt zwar, weil die Gruppe ihre chilenische Herkunft nicht unbedingt verleugnet und in gewissem Sinne durchaus auch im konventionell abgesteckten Rahmen musiziert, also quasi mit Sicherheitsgurt, allerdings schüttelt man einen so gekonnten Mix aus klassisch und modern nicht unbedingt im Vorbeigehen von den Bäumen. Die Instrumentierung spricht mit Flöte, Klarinette und Saxofon (nebst Gitarre, Bass und Schlagzeug) den Dialekt der alten Schule, arrangiert werden die Stücke aber alles andere als altbacken. Im letzten Viertel mag die Luft etwas schwinden, bis dahin jedoch sind sämtliche Stücke vorwärts gerichtet, angetrieben von einer tiefen, verspielten Bassspur, den treibenden Beats einer umfangreichen Percussion-Sammlung und konterkarierenden elektronischen Effekten.
Mit jeder Faser atmen die Songs dabei den alten Geist des Jazz, der nicht nur in den crimsoiden Riffs, sondern gerade auch in den ausgewählten, memorablen Auftritten des Saxofons ein Sprachrohr findet, das mit Persönlichkeit nicht geizt. Da wird Henry Mancini rezitiert, da werden düstere Ecken einer Spelunke mit einem grellen Lichtbogen ausgeleuchtet und eine Big Band sichtbar gemacht, die ganz im alten Stil swingt und jazzt. Dann verzerrt sich das Tonband und eine neoprogressive Ausrichtung kommt zum Vorschein, angetrieben von Apocalypse-Now-Hubschrauberrotorflügeln, gepaart mit dem elektronischen Summen einer fliegenden Untertasse („Convergencia Caótica“). „Enjambre Sísmico“ bringt Welten zusammen, präsentiert aus dem sechskantigen Blickfeld einer Honigbienenfacette.
Bis man merkt, dass das Album ganz ohne Gesang auskommt, ist es beinahe schon vorbei. Ein gutes Zeichen: So progressiv die ungeraden Takte sich auch geben mögen, wird es doch nie so verkopft und redundant abgehoben, dass man das Interesse verlieren könnte. Der Hauch des Konservativen, der den Jazz an der Leine hält, macht die wilden, abwechslungsreichen Klänge beinahe zur Chillout-Musik. Eine zum Schein arrangierte Jam-Session, die zu professionell inszeniert ist, um wirklich gejammt zu sein; nichtsdestotrotz sammelt sie Sympathien.
FAZIT: Wirklich außergewöhnlich präsentieren sich ABRETE GANDUL nicht – ihren Retro-Jazz-Prog würden man jedenfalls eher „typisch chilenisch“ nennen als beispielsweise ein NOSOUND-Album, das viel weniger progressiv ist, „typisch italienisch“. Und doch überraschen sie mit einer immerzu spannenden Mixtur aus Retro-Klängen und Neo-Kontrasten, die ausnahmsweise selbst aus Retro-Prog-Muffeln Sympathisanten machen könnte.
Punkte: 11/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 09.07.2011
Pedro Santander
Rodrigo Maccioni
Jaime Acuña
Antonio Arceu
Leo Arias (Saxofon, Klarinette), Rodrigo Maccioni (Effekte, Flöte), Pedro Santander (Effekte)
Fading Records / Altrock / Just For Kicks
60:02
10.06.2011