Einmal mehr lassen sich MiG nicht lumpen und arbeiten deutsche Musikgeschichte im internationalen Kontext auf, und zwar in einer Aufmachung, die dem Fan große Freude bereiten wird: Drei CDs nebst informativem Booklet decken - der Titel sagt es - vier Jahrzehnte ALEX CONTI ab.
Erste Haltestelle: Atlantis. Nach CURLY CURVE, FEVER und PSY IS FREE agiert der Gitarrist hier im Verbund mit Inga Rumpf in einem relative funkigen Rock-Kontext, was insbesondere für die Rhythmik gilt. Die beiden Studio- beziehungsweise Livetracks zeigen gleichfalls orgelige Spielfreude auf, und die dazugehörenden Alben, mindestens das selbstbetitelte Debüt von 1972, gehören in jeden guten Post-Kraut-Haushalt.
Nach dem Schlager-Doo-Wop von RUDOLF ROCK - dankenswerterweise ein Einzeltrack, stehen die kräftig zupackenden LAKE im Vordergrund. Angesichts des Klassikerstatus vor allem ihrer ersten beiden Alben hätte hier mehr drin sein können als nur vier Livesongs. Ähnlich entbehrlich sind die drei Coverversionen des Projekts SALT III, von denen vor allem HENDRIX' "Fire" mit den Augen rollen lässt.
Unter seinem Nachnamen reüssiert CONTI am Ende von CD eins und zu Beginn des zweiten Tellers mit entspanntem Mainstream-Rock, wie ihn DIRE STRAITS in besseren Zeiten in die Radios gehievt haben. Die letzten drei Songs befremden mit skuriller Fistelstimme und Synth-Bass - eine eindeutige Anbiederung an die Disco-Bewegung und definitiv nicht zeitlos. ELEPHANT wiederum schienen sich THE POLICE zum Vorbild genommen haben, hört man die vier in guter Bootleg-Qualität enthaltenen Livesongs aus Hamburg. Zeitlich zumindest würde der Bezug zu Sting und co. passen, die ebenfalls Mitte der Achtziger größere Erfolge feierten.
Dass CONTI auch Maulschellen verteilen kann, beweist die Gruppe ROSEBUD, Boogie-lastig und mitunter sehr virtuos, was die Solos betrifft, nicht zu vergessen das unglücklich mit "Smoke On The Water" kokettierende "Keep Smiling", das aber ob der herrlich siffigen Leadstimme vor allem Fans des rehabilitierten Haarspray-Rocks begeistern dürfte. Härter wird es nur noch mit ROCKSHIP (wiederum mit Frau Rumpf), derweil sich der Musiker mit ELECTRIC BALLROOM stilistisch mitunter weit aus dem Fenster lehnt, jazzt oder noch mehr bluest als sonst und auch andere stilistischen Beschränktheiten aushebelt. Rock bleibt es indes irgendwo immer.
Die Aufnahmen der HAMBURG BLUES BAND stammen ungefähr aus der gleichen Zeit und bieten, was man angesichts des Namens erwarten kann, wobei gerade das ellenlange "Woza Nasu" beeindruckt. RORYMANIA! spricht ebenfalls für sich selbst; "Too Much Alcohol" zollt dem verstorbenen Säulenheiligen überzeugend Tribut, und man darf sich freuen, dass die Besetzung des Projekts nach wie vor Bestand hat (höre "The Vineyard Sessions" aus dem Jahr 2010).
KALEIDOSCOPIA - ausladender, nicht wirklich harter Rock mit Keyboards und wenig Gesang - sind für den Rezensenten ein unbeschriebenes Blatt, doch die relaxten und im Schnitt zehn Minuten langen Songs gefallen, vor allem das mit Bläsern angereicherte "Spectral Voyager", ein experimenteller Space-Rocker. Das Instrumental "Bei mir bist du schön", im Original ein Standard im Bereich orientalischer Swing-Musik von 1938, beschließt den quantitativ hochwertigen und genretechnisch farbenfrohen Reigen angemessen friedlich.
Für den Kenner sind die Standards der obligatorischen Baustellen von CONTI wohl weniger reizvoll als die einzelnen Stilblüten am Wegrand, doch da diese Box vermutlich nicht die Welt kosten wird, dürfte sich der Kauf eben nicht nur für Neuentdecker lohnen.
FAZIT: "Retrospective" bietet eine ebensolche zum Künstler ALEX CONTI, der nunmehr 40 Jahre lang zwischen kommerzieller, aber spielerisch brillanter Gebrauchsmusik, Prog, Blues und Rock wildert. Aufmachung und Informationsgehalt entsprechen dem gehobenen Standard, und Geschichtsbewusste ohne Vorerfahrung greifen zu. Der Rest hält sich wie immer bei solchen Geschichten an die klassischen Alben.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 29.10.2011
MIG (Made In Germany) Music
66:17, 69:11, 72:09
28.10.2011