Zurück

Reviews

Electric Orange: Netto

Stil: Purer Krautrock

Cover: Electric Orange: Netto

Mal wieder allerhöchste Zeit, sich auf akustische Entdeckungsreise in sein musikalisches Kräutergärtchen zu begeben, das man in den frühen siebziger Jahren angelegt hat, auch wenn der Begriff dafür anfangs eher spöttisch verstanden werden sollte. Doch die klangvollen Kräuter wucherten, entfalteten ihre volle Schönheit, wuchsen wild durcheinander und waren allesamt nützlich, trotz des einen oder anderen Unkrauts, das sich dazwischendrängte. Leider setzte sich im Laufe der Zeit bei den Krauts (englischer Schmähbegriff für die Deutschen) dann doch immer mehr das musikalische Unkraut durch, das zwar für kurze Zeit viel schöner erschien, dafür aber um Längen unnützer war. Doch auch heute gibt es noch zwischen all den bunten und sinnlosen Musikgewächsen ein paar kleine Sprösslinge zu bewundern, die einem nicht in die Augen, dafür aber sofort in die Ohren gehen. Gepflanzt von ein paar Jungspunden, die den althergebrachten Kräutern die Aufmerksamkeit entgegenbringen, die sie auch heute noch und nicht nur vor über 40 Jahren verdient hat. Eine ganz besondere, „unbelehrbare“ Art dieser Musik-Krautrock-Gärtner, die mit dem Mut der Verzweiflung den Versuch unternehmen, die klangvollen Nutzpflänzchen neue erklingen zu lassen, während sie im gleichen Atemzug alles Althergebrachte darin zu bewahren versuchen, heißen ELECTRIC ORANGE.

Bereits vor knapp 20 Jahren gründete sich diese deutsche Band und hält sich beim Einspielen ihrer Alben an ein immerwährendes, ganz typisches Krautrock-Prinzip. Man geht nicht mit perfekt durchkomponierten Stücken ins Studio, sondern mit einem Haufen Ideen, die dann während der Aufnahmen stark improvisatorisch ihre Entfaltung und ganze Schönheit finden. Das führt natürlich manchmal zu der einen oder anderen überflüssigen Länge, doch von welcher Krautrockband gibt’s diesbezüglich nicht Ähnliches zu berichten? Wenn man hierbei sogar das Mastering keinem Geringeren als EROC überlässt, der ja nicht nur als hervorragender Studio-Techniker, sondern auch als Musiker bei GROBSCHNITT jede Menge progressive Krautrockerfahrungen sammeln durfte, dann entsteht wohl aus den vielen Brutto-Improvisationen am Ende ein sehr ansprechendes „Netto“-Album.

Bestimmender Grundton bei „Netto“ sind die extrem sphärischen Klänge, auf die immer wieder das Schlagzeug, die Gitarren und der Bass „einschlagen“, ohne ihre Grundstimmung zu zerstören, sondern diese stattdessen zusätzlich zu betonen, ihr „ein etwas härteres“ Leben einzuhauchen. Gleichermaßen darf der Hörer aber auch in ganz tiefer Psychedelic versinken, in deren schönsten Momenten (Supptruppen) deutliche Erinnerungen an die herrlichen Psyche-Frühwerke von PINK FLOYD geweckt werden. Ebenso bemerkenswert sind auch die vielen elektronischen Einlagen, die besonders die ersten beiden Alben von KRAFTWERK (Die aus mir unerklärlichen Gründen nicht mit in ihre neuste Box „Kraftwerk – Der Katalog“ aufgenommen wurden!) oder TANGERINE DREAMs „Electronic Meditation“ eine neues „Netto“-Leben einhauchen. Selbstverständlich sind gerade diese „alten Vergleiche“ mehr als berechtigt, wenn man sich nur einmal anschaut, was für ein Keyboard-Arsenal DIRK JAN MÜLLER auffährt: Mellotron, Minimoog, Farfisa Compact, Hammond Orgel, Rhodes usw. Die Musik von ELECTRIC ORANGE ist eben ein ehrlicher Blick zurück, in die gute alte Zeit des Krautrocks mit den guten alten Instrumenten, die im Krautrock zur Anwendung kamen. Gerade das lässt „Netto“ eben zu einem besonderen Album werden, welches man (Vorausgesetzt, man hört es heute, ohne zu wissen, wann es entstanden ist!) ruckzuck in seine Krautrock-Sammlung der 70er zwischen CAN, AMON DÜÜL, NEU!, KRAAN und GURU GURU einordnen würde. Beginnen dann auf „Netto“ sogar noch die Grillen zu zirpen und Brummer zu brummen, bekommt man sicher auch wieder Lust darauf, PINK FLOYDs „UmmaGumma“ aus dem Plattenschrank zu holen. Was sein muss, muss eben sein!

FAZIT: ELECTRIC ORANGE sind die Bewahrer der Krautrocktradition und vielleicht sogar ihre Retter. Seit fast 20 Jahren klingen ihre Alben genauso, wie es die beinharten, alten Krautrock-Fans von ihren 70er-Idolen erwarteten: psychedelisch, sphärisch, elektronisch, urwüchsig und improvisiert. Der wahre Nutz-Kräutergarten für alle, denen nicht ihr musikalisches Lebensgefühl im Unkraut des Radio- und Fernseh-Dschungels abhanden gekommen ist.

Punkte: 10/15

Erschienen auf www.musikreviews.de am 05.10.2011

Tracklist

  1. Polyzysten
  2. Basslochner
  3. Fluff
  4. Perpetuum Mobiliar
  5. Netto
  6. Supptruppen
  7. Auslauf
  8. Zeitheiser
  9. Raumschaf

Besetzung

  • Bass

    Tom Rückwald

  • Gitarre

    Dirk Bittner

  • Keys

    Dirk Jan Müller

  • Schlagzeug

    Georg Monheim, Dirk Bittner

Sonstiges

  • Label

    Sulatron Records / Cargo Records

  • Spieldauer

    79:49

  • Erscheinungsdatum

    23.09.2011

© Musikreviews.de