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Jon Schaffer will es noch einmal wissen: Nachdem ICED EARTH in den letzten Jahren aufgrund beruflicher und privater Prioritäten des zurückgekehrten Sängers Matt Barlow fast nur noch Hobby-Status hatten und überwiegend lediglich auf Festivalbühnen zu sehen waren, möchte der Gitarrist und Songwriter die Band jetzt wieder ganz nach oben bringen. Seit Monaten rührt ein eigens dafür angestellter Publizist recht erfolgreich die Werbetrommel mit allerlei Facebook-Aktionen, versorgt die Fans mit Informationen aus erster Hand und schart potentielle neue Jünger um sich. Für die nächsten Monate sind groß angelegte, weltweite Tourneen in Planung. Um seinem Schwager bei diesem Vorhaben nicht im Weg zu stehen, räumte Fan-Liebling Matt Barlow freiwillig wieder seinen Platz für einen zeitlich flexibleren, ganz der Band verschriebenen Frontmann, Stu Block von INTO ETERNITY. Und dessen Neueinspielung des 17-minütigen "Dante's Inferno" gab es dann auch noch als Anheizer vor dem Album-Release zum kostenlosen Download.
Gleich vorweg: Diesen Stu Block darf man nicht nur als hervorragende Wahl, sondern wohl auch als "gelungene Integration" abhaken, denn er kann weder seine tiefen Growls noch sein Black-Metal-Gekreische an irgendeiner Stelle unterbringen (wobei das hier und da sicher eine interessante Kombination ergeben hätte). Viel erstaunlicher ist jedoch, dass es auch die von ihm gewohnte klare Stimme kaum zu hören gibt. Stattdessen herrscht hauptsächlich ein leicht räudiger, rauer und kraftvoller Gesang in mittleren Lagen vor, ganz selten ergänzt durch die Kopfstimme im Tim-Owens-Stil. Hier hätte man sicher, gerade bei diesem Sänger, noch mehr Abwechslung ins Spiel bringen können, und manchmal geht er schon fast ein wenig zu engagiert und pathetisch zu Werke, aber insgesamt liefert Stu Block eine absolut überzeugende, mitreißende Performance ab.
Optimale Voraussetzungen für einen "Relaunch" der Marke ICED EARTH sind also gegeben. Dies ließ den geneigten Fan schon auf eine Rückkehr zu alten Glanztaten oder womöglich den ganz frühen Werken hoffen, zumal im Vorfeld vom einem "harten", "düsteren" Album die Rede war. Ganz so ist es nun doch nicht gekommen, stattdessen hat Jon Schaffers Solo-Projekt SONS OF LIBERTY seine Spuren hinterlassen. Auch in den Texten von ICED EARTH findet sich nun seine Sichtweise der wahren Probleme der Menschheit wieder. Nur geschieht dies auf "Dystopia" weniger konkret und nicht auf reale Begebenheiten bezogen, sondern in Verbindung mit dystopischen Zukunftsvisionen (teilweise basierend auf diversen Science-Fiction-Filmen). Diese ziehen sich wie ein roter Faden durch die meisten, ansonsten voneinander unabhängigen Tracks. Sogar sein eigenes "Something Wicked"-Universum passt nun erstaunlicherweise perfekt in diese, von ihm erst in den letzten Jahren entwickelte Weltanschauung, so dass Albumeröffnung und -abschluss darauf Bezug nehmen.
Aber auch musikalisch gibt es Parallelen zu SONS OF LIBERTY und dem Album "Brush-Fires Of The Mind": Schon auf diesen zuletzt veröffentlichten Kompositionen von Jon Schaffer konnte man im Vergleich zu den vorherigen ICED-EARTH-Werken eine deutliche Reduzierung des Bombasts bemerken, straighte, direkt rockende Songs mit eingängigen Refrains und weniger Schnickschnack. Diese Entwicklung setzt sich nun auch auf "Dystopia" fort, es gibt keine Orchestrierungen, gigantischen Chöre oder komplexen Songstrukturen und keinen Spuren-Overkill zu hören. Stattdessen könnte man bei oberflächlicher Betrachtung eher von einer Rückkehr zu der erfolgreichen Phase von "The Dark Saga" und "Something Wicked This Way Comes" sprechen. Genau wie damals konzentriert man sich heutzutage auf einfache, klare Riffs zum Mitpfeifen/Nachspielen und Festival-kompatible Refrains. Doch auch wenn es einige Parallelen geben mag: "Dystopia" ist nicht mit dem Versuch von "Something Wicked This Way Comes" zu vergleichen, die komplette Albumstruktur des Vorgängers nachzuahmen. Sicher, man hat mit "Boiling Point" und "Days Of Rage" zwei eher überflüssige, stumpfe Thrasher im Stile früherer Nummern im Programm und versucht erneut, ein zweites "I Died For You" zu schreiben ("Anguish Of Youth"). Ansonsten geht "Dystopia" jedoch leicht andere Wege: Als Opener gibt es nicht den typischen Stampfer, sondern eine treibende Nummer, die Abschlusstrilogie fehlt genauso wie jegliche epische Anwandlungen, und es wird noch mehr Wert auf melodische, hymnische Refrains gelegt. Alles klingt rockiger, luftiger, simpler und weniger düster, als man es von ICED EARTH gewohnt ist, trotz der Thematik also kein Vergleich zur dunklen Atmosphäre von "Burnt Offerings" oder "The Dark Saga".
"Dystopia" ist sicherlich das zugänglichste Album, das Jon Schaffer je komponiert hat. Die Songs sind überwiegend recht kurz und straight gehalten, die Riffs bewusst einfach und klingen für seine Verhältnisse oft eher wie Aufwärmübungen. Das gibt zwar einerseits den Vocals und auch dem Bass mehr Raum, wodurch die Stücke eingängiger klingen und mehr Groove verpasst bekommen. Andererseits vermisst man schon etwas das typische, messerscharfe Riffing. Anstatt der früheren Thrash-Lastigkeit macht sich nun ein starker IRON-MAIDEN-Einschlag bemerkbar. Steve Harris und seine Mannschaft waren natürlich immer schon ein großer Einfluss, jedoch spielte sich dies immer unter dem eigenständigen ICED-EARTH-Mantel ab. Jetzt jedoch könnten viele der typischen Gitarrenleads ("Dark City", "Equilibrium") und teilweise ganze Songs ("Tragedy And Triumph") fast unverändert auch auf einem frühen IRON-MAIDEN-Album stehen (abzüglich einiger schneller Bewegungen von Jons rechter Hand). Im Gesamtbild wirken ICED EARTH dadurch etwas mehr wie eine "gewöhnliche" Power-Metal-Band.
So macht sich dann zunächst auch ein wenig Ernüchterung oder sogar fast Enttäuschung breit, denn "Dystopia" ist sicher nicht der erhoffte, alles wegfegende Knaller und kein zweites "Night Of The Stormrider" geworden. Doch dann ertappt man sich dabei, dass die Songs trotzdem irgendwie jede Menge Spaß machen. Natürlich ist das Material nicht so fordernd, komplex oder progressiv und klingt ganz sicher nicht besonders originell. Aber die betont simpel gehaltenen Riffs und einfach strukturierten, direkten Songs mit ihren zum Mitsingen einladenden Refrains funktionieren dennoch (wenn man einmal darüber hinwegsehen kann, dass hier keine größeren Ambitionen gehegt wurden). "Dystopia" wird man deshalb wahrscheinlich auch öfter hervorholen als die beiden eher schwerverdaulichen Vorgänger, obwohl es auf diesen deutlich mehr zu entdecken gab. ICED EARTH wollten offensichtlich diesmal einfach "nur" gute und leichte Unterhaltung bieten (von den Texten einmal abgesehen) und liefern ein Album für die Festivalbühne. Fast alle Tracks dürften live hervorragend funktionieren, hervorzuheben sind jedoch der Titeltrack, das pathetische "Anthem", die Hymne "V", das stimmungsvolle "Dark City", die besonders packend gesungene Halbballade "End Of Innocence" und das abschließende, mitreißend galoppierende "Tragedy And Triumph".
Was noch erwähnt werden muss: Das limitierte Digipak enthält unter anderem zwei zusätzliche neue Songs, eingefügt vor dem Abschlusstitel "Tragedy And Triumph". Oder anders gesagt: Auf der normalen CD-Version (die allerdings auch deutlich günstiger zu haben ist) wurden zwei reguläre Albumtracks gestrichen. Diese lagen uns nicht vor, können also leider auch nicht für diese Rezension berücksichtigt werden.
FAZIT: Einfacher gestrickt, zugänglicher, rockiger und trotz der düsteren Texte positiver gestimmt als sämtliche Vorgänger: "Dystopia" stellt wohl das kommerziellste Album der Bandgeschichte dar, was nicht ausschließt, dass man sich bisweilen bei selbiger bedient. Wer sich damit arrangieren kann, wird trotzdem gut unterhalten, nicht zuletzt aufgrund der engagierten Performance von Neuzugang Stu Block (dessen volles Potential hier jedoch noch nicht ausgeschöpft wird). Beim nächsten Mal würde ich mir aber wieder mehr düstere Atmosphäre, komplexeres Songwriting und vor allem das typische, furiose Riffing stärker ausgeprägt wünschen.
Punkte: 11/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 02.10.2011
Freddie Vidales
Stu Block
Jon Schaffer, Troy Seele
Brent Smedley
Century Media / EMI
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14.10.2011