Zehn Seiten Presse-Info. Normal sind eine bis zwei. Ist dann auch mehr eine autobiographische Abhandlung, die Cornelius Hudalla (Produzent, Manager, Fotograf, Journalist und enger KARTHAGO-Vertrauter) verfasst hat. Eine kleine Zeitreise in die wilden Siebziger, in denen es reichte wie ein verhuschter außerparlamentarischer Oppositioneller auszusehen, und nicht wie Osama Bin Ladens kleiner Bruder, um in Arrest genommen und gelegentlich ordentlich vermöbelt zu werden. Auch, wenn man nur Mitglied einer Krautrock-Band war und kein gesuchter Top-Terrorist.
KARTHAGO waren mittendrin statt nur dabei. Ochsentouren durch sämtliche Käffer Deutschlands, die Auftrittsmöglichkeiten boten; Platten, die Anfang bis Mitte der Siebziger zum allgemeinen Kulturgut gehörten. Kaum jemand, der KARTHAGOs Cover mit jener Mischung aus Elefant und einem von H. P. Lovecrafts großen Alten nicht kannte oder in der Hand gehalten hatte. „Rock’n Roll Testament“ hieß das Erkennungsstück und ist natürlich auch auf „Live At The Roxy“ enthalten. Nach der ersten, noch ziemlich unausgereiften LP, konnten KARTHAGO einen Besetzungscoup landen und angelten sich den ehemaligen JETHRO-TULL-Bassisten Glenn Cornick, mit dem sie sich in die erste Garnitur angesagter Krautrock-Bands spielten. Dabei war die Band eher einem erdigen, schlichten Rock verpflichtet, den man heutzutage nur noch mit viel gutem Willen als „Hard“ bezeichnen könnte, der aber – vor allem Live – ordentlich aufgemotzt wurde durch instrumentale Ausflüge in den Jazz-, Funk-, Blues- und Jam-Rock. Progressive Elemente fanden sich ebenfalls, am Rand. Man war stolz, seine instrumentalen Fähigkeiten ausspielen zu können, sehnte sich in die Nähe SANTANAs und JIMI HENDRIX‘ und gab ordentlich Zunder, was auch heute noch Songs wie das zwölfminütige „The Second String Rambler“ zum veritablen Tanzflächenfüller auf jeder Ü40 Party werden lässt.
1976 als KARTHAGO „Live At The Roxy“ in Berlin spielten, lag die Karriere der Band eigentlich schon in den letzten Zügen und auch der – damals selten so bezeichnete – Krautrock röchelte vernehmlich nach Luft. Warum sollte es den deutschen spiel- und detailverliebten Musikern anders ergehen als ihren angloamerikanischen progressiven Pendants? Das „Saturday Night Fever“ forderte seinen Tribut und bekam ihn auch. Den meisten Krautprog-Bands bekam das Flirten mit populärer Musik nicht. Sie begaben sich auf ein Terrain, das andere wesentlich besser beherrschten. Über Jahre in der Versenkung zu verschwinden oder sich ganz aufzulösen waren die Alternativen. Sie wurden ergriffen. Auch von KARTHAGO.
Doch vorher legte man sich noch einmal ins Zeug und spielte einen Gig, der seinen Weg auf Doppel-LP fand; der geliebt und verklärt wurde und vor allem in der Erinnerung geradezu Legendenstatus erhielt. Vor allem die Zeilen „Ringo Funk am Schlagzeug“ und die ausführlichen Trommel-, Orgel- („Ist DAS ein Applaus für Ingo Bischoff?“) und Gitarrenexkursionen sorgten für anerkennenden Beifall. Nicht nur beim anwesenden Publikum. „Ein Urschrei!“ – „Ihr seid fantaschtis!“
Nun gab es bereits 1987 eine Veröffentlichung auf Einzel-CD, versehen nur mit den allernötigsten Informationen und unter Verzicht auf drei Stücke. Mag der durchschnittlichen Poppplatte nicht wehtun, macht in diesem Fall aber eine gute halbe Stunde aus und bedeutet: kein Trommelsolo, keine launige Ringo-Funk-Ansage. Was diese Version zum Silberling Non Grata werden ließ.
Jetzt also das komplette Konzert auf zwei CDs. Wie damals. Bloß nicht so schwarz. Und kleiner…
Doch die Zeit ist nicht stehen geblieben. So präsentieren sich KARTHAGO als rührend aufgedrehte Rocker, deren musikalisches Songmaterial mitunter ziemlich medioker aussieht. Die Band-Hymne „Rock’n Roll Testament“ ist ein harmloser Stampfer und auch der Beginn von „Highway Seeker“ klingt ein wenig nach DEEP PURPLE vom Dorf mit PETER FRAMPTON flirtend. Gut wird es immer dann, wenn die Band sich Zeit nimmt, drauflos spielt und den Vorlieben für Jazz, Funk, Blues und progressive Klängen Entfaltungsraum gibt („Highway Seeker“ im weiteren Verlauf). Dann kann man sogar Drumsoli im heimischen Wohnzimmer goutieren, denn hier dominieren Spielfreude und Lust am Musizieren endgültig.
FAZIT: „Live At The Roxy“ ist das musikalische Pendant zu einem Buch aus der Jugendzeit, das man auf dem Speicher findet, und das einen wieder eintauchen lässt in die Zeit, als es noch aktuell und aufregend war. Für eine 35-Jahre alte Live-Aufnahme ist der Sound zudem klasse. KARTHAGO spielten als Schwanengesang einen funkelnden kleinen Rohdiamanten ein, der alles andere als perfekt oder gar in letzter Konsequenz durchgängig mitreißend ist. Aber „Live At The Roxy“ vermittelt überzeugend eine Ahnung vom kleinen Traum, unbedarft und mit reiner Lust am Musikmachen aufzuspielen. Ganz egal, ob das zugrunde liegende Material und die eigenen Fähigkeiten mithalten können. Wild und ungezähmt. Nicht wirklich, aber der Glaube daran zählt. Und davon enthält der musikalische Doppeldecker eine ganze Menge. Sowie ein ausführliches Booklet, das dem kompletten Infosheet entspricht. Allerdings ins Englische übersetzt. Wir sind halt Rocker. Die können das.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 21.05.2011
Gerald Hartwig
Joey Albrecht, Ingo Bischof, Reinhard Bopp
Reinhard Bopp, Joey Albrecht
Ingo Bischof
Ringo Funk, Thomas Goldschmidt (perc.)
MI
CD1: 46:51 / CD2: 46:21
29.04.2011