Im Jahre 2009 hat es die Band bezüglich des Line-Ups ganz ordentlich durchgeschüttelt, doch das hielt die 1998 ins Leben gerufenen LAZULI keinesfalls davon ab, weiter ihren Weg zu gehen – zahlreiche europäische Bühnen wurden beackert und an neuem Material wurde ebenfalls hart gearbeitet.
Die sympathischen Klangkünstler zeigen sich auf ihrem fünften Album in gewissem Sinne abgespeckt – nicht bezüglich des musikalischen Gehalts, sondern, weil gewisse Elemente wieder etwas weniger präsent sind. Die verschiedenen Samples zum Beispiel, die gerade auf „Réponse incongrue à l'inéluctable“ noch stärker vertreten waren, wurden bis auf ein minimales Minimum aus dem Bandsound verbannt, und LAZULI tönen anno 2011 nicht mehr ganz so düster wie zuletzt – vielmehr erscheint die Formation größtenteils in sich ruhend, positiver und auch etwas entspannter proggend. Gerade Letzteres tut ganz gut, denn man hatte zuletzt hin und wieder häufig das Gefühl, dass die beiden Leonettis und ihre Mitmusiker es manchmal zu sehr darauf anlegten, proggig zu sein.
Auffällig ist, dass „4603 Battements“ so effektiv wie sonst kein Album aus der Discographie groovt. Zwar waren die Ethno-Einflüsse schon immer im Notengefüge der Westeuropäer vertreten, doch die Songs pumpen viel mehr – manchmal hat das etwas vom 2006er Drittwerk „En avant doute...“, nur in nicht ganz so hart und wild - und in deutlich organischerer Ausführung. Fast mehr als sonst wurde bei den Stücken offensichtlich Wert auf einen spannenden Songaufbau gelegt, und es schien der Formation ebenso wichtig zu sein, starke Melodien zu komponieren, die sich in des Rezipienten Hirn einbrennen. Aber nach wie vor ist der Dreh- und Angelpunkt der zur Zeit aus fünf festen Mitgliedern bestehenden Band ein Mix aus Progressive Rock, Folk, Ethno und einer unsülzigen Version des Chanson. Natürlich spielt auch die Leode, ein Instrument, welches Claude Leonetti nach dem motorradunfallbedingten Verlust seines linken Arms selbst entwickelte und aussieht wie eine Gitarre mit extrem verkümmerten Korpus und einem überdimensional breiten Griffbrett, mit seinem speziellen Sound ebenfalls eine tragende Rolle.
Uh! LAZULI auf dem Simplizitäts-Trip? Pop-Prog?
Keinesfalls, denn in sich selbst besitzt das Album ein hohes Maß an Variabilität – eben nur anders.
Ticktackticktack. Track eins, „[“, acht Sekunden Uhrwerkticken, und dann nimmt der Longplayer mit „Je te laisse ce monde“, einem recht ruhigen und dennoch dynamischen Opener, irgendwo zwischen Prog, moderner französischer Musikkultur und Verträumtheit, langsam Fahrt auf. Es folgt mit „Le miroir aux alouettes“ ein subtil beginnendes, dann aber mit aller Kraft stampfendes Groovemonster. „Dans Le Formol Au Museum“ hingegen tanzt dann erst mal völlig aus der Reihe, denn von der Melodieführung, den Akkordfolgen, der Dynamik und vom Rhythmus her hätte dieses fünfeinhalbminütige Kleinod auch auf einem der in den Mittneunzigern erschienenen Alben des Seattle-Alternative-Geheimtipps ELEVEN stehen können, etwa auf „Thunk“ oder auf „Eleven“ - nur mit dem Unterschied, dass hier nicht Natasha Shneider (R.I.P.) und Alain Johannes ihre Gefühlswelt nach außen kehren, sondern Frontmann Dominique Leonetti chansonesk seine französischen Texte über das lebendige Treiben drapiert.
Nach dem ruhigen „15H40“ wird es sehr atmosphärisch und dramatisch, denn „Les malveillants“ wohnt eine innere Anspannung inne, die sich besonders in den leiseren Passagen bemerkbar macht... der nervöse Percussion-Ameisenhaufen am Anfang, dann dieses Ausholen in Form taumelnder Steigerung der Lautstärke und der instrumentalen Aktivität bis hin zum Befreiungsschlag, dem Refrain... und am Ende die plötzliche Ruhe – etwas Luftholen ist mit „Quand la bise fut venue“ angesagt, das eher etwas von Singör/Songraitör hat. A propos Songs und Schreiben: Song-by-Song-Rezensionen sind normalerweise der Teufel, aber, ach je, es ist so spannend, und ich muss Euch das alles erzählen. Ziehen wir‘s also bis zum bitteren Ende durch.
„L‘azur“ ist dann wieder eine Dynamikbombe, beginnend mit sanften Strophen, dann in kraftvollen und gemächlichen Geradeaus-Groove kaskadierend und dann fast schon metallisch riffenden endend – und bildet zum spacigen, mit Beeps, Blonks und oszillierenden Synthies (die manchmal wie ein Theremin klingen) ausgeschmückten Absacker „Saleté de nuit“ einen hervorragenden Kontrast. Eine dem Opener ähnliche, schwelgende Nummer, die noch etwas „französischer“ tönt und im 6/8-Takt den Hörer einlullt, bevor sie mit solierenden Gitarren gen Himmel schwebt, läutet dann das Ende des Albums ein, und „]“ schließt neben der eckigen offenen Klammer dann auch mit einem Reprise von „Je te laisse ce monde“ den Kreis.
„4603 Battements“ darf als eines der schönsten und intensivsten Alben aus dem progressiven Sektor bezeichnet werden. Schön ist auch, dass LAZULI ihrer Landessprache treu bleiben, denn dies verleiht dem Bandsound einen ureigenen Charme, Eigenständigkeit und eine sonderbare Aura. Und wo wir gerade bei Schönheit sind: Das Digipak besticht durch sein Understatement, alles ist angenehm schlicht und stilvoll gehalten, und so wird der Hörer erst gar nicht abgelenkt und kann seine Erkundungswut ausschließlich im Schallwellenmeer der nächsten rund 48 Minuten ausleben.
FAZIT: Mein Progressive-Rock-Tipp des Jahres 2011.
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 08.07.2011
Christine Villiard
Dominique Leonetti
Dominique Leonetti, Gédéric Byar
Romain Thorel
Vincent Barnavol
Claude Leonetti (Leode), Dominique Leonetti (Mandoline), Romain Thorel (Horn), Vincent Barnavol (Marimba)
Lazuli/Just For Kicks
48:17
17.06.2011