In den ersten Sekunden rumpelt 80er-Jahre-Hard-Rock triumphierend aus den Boxen, begleitet durch ein imaginär in Aufsicht gefilmtes Stroboskoplichtgewitter auf riesiger Bühne mit Groupies in den ersten Reihen, die blank ziehen. Als die Pose abrupt mit Spacerock-Gewummer aufgebrochen wird, klärt sich nach nur Augenblicken erstmals auf „Bilateral“ das Volumen, über das LEPROUS verfügen. Eine gigantische Genreweitsicht entwächst dem Boden; sie wird in der fortwährenden Stunde noch wilde Wurzeln schlagen. Nach und nach eröffnet sich ein unüberschaubarer Stilparcours, der fortan keine Chance mehr lässt, auch nur eine Abzweigung vorherzusagen.
Man sagt den fünf Norwegern nach, dass sie sich dem Black Metal anheim fühlen; aber auch, dass sie sich mit „Aeolia“ (2006) und „Tall Poppy Syndrome“ (2009) zu einem unausgesprochenen Nordlichterkampf mit OPETH bereiterklärt hätten. Derlei Stigmata lasten jedoch zu schwer, als dass sie auf Dauer haltbar seien. Referenzen zu anderen Bands ergeben sich aufgrund der Erfahrung des Hörers und den vielen Ansätzen, die LEPROUS wagen, in einem fort, und doch läuft das InsideOut-Debüt dermaßen wider die Trampelpfade, dass die Kreuzwege zu komplett neuen Ufern führen.
Aufs Gröbste heruntergekürzt liegt eine Kreuzung aus der Melodik klassischen Heavy Metals und dem Hakenschlag quer schlagender Avantgarde vor, aber damit ist im Grunde noch nichts gesagt. Es unterschlüge beispielsweise Einar Solbergs Stimme, die von Kehle bis Kopf gefühlte Milliarden von Nuancen auszudrücken vermag. Eine Entdeckung, wie es sie pro Jahrzehnt nur eine Handvoll gibt. Oder die Art und Weise, wie sich dieses Album praktisch jede Musikrichtung zu Eigen macht, ohne sich an die Autarkie eines einzelnen Genres zu binden.
Die Unberechenbarkeit macht „Bilateral“ aber noch nicht so besonders. Mit ihr alleine schlüge man sich lediglich in die große Schlange mit den BETWEEN-THE-BURIED-AND-MEs, den PROTEST-THE-HEROs, den THE-MARS-VOLTAs und UNEXPECTs dieser Welt. Darüber hinaus oszilliert es die Besonderheit eines vollkommen neu ergründeten Paradigmas wie eine Blumenblüte ihren Staub. Ob PORCUPINE TREE zu „In Absentia“-Zeiten („Mb. Indifferentia“), der windige Freiflug per Stromzufuhr wie bei AMPLIFIER („Acquired Taste“), Post-TOOL-Indie-Mutationen mit Jonathan-Davis-Refrains und AOR-Strophen („Restless“) oder komplett wahnsinniges und sich jeder Kategorie entziehendes Gänsehautgewitter („Forced Entry“ ab 8:37 – what…the…f…) – am Ende schmiegt sich alles unter einem Schirm in die Pilzlamellen und fügt sich zu etwas bar jeder Kategorie.
FAZIT: In der Anwartschaft auf den Titel des besten progressiven Albums des Jahres haben sich LEPROUS mit dieser fruchtigen Granate VIP-Plätze gesichert. Wenn dem Rezensenten Luft und Worte fehlen und er hilflos auf den geschriebenen Text blickt, nur um festzustellen, dass er in seinen Bemühungen nicht mal an der Oberfläche gekratzt hat, dann hat man – Understatement ahoi – etwas nicht ganz Alltägliches geschaffen.
Punkte: 14/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 17.08.2011
Rein Blomquist
Einar Solberg
Tor Oddmund Suhrke, Øystein Landsverk
Tobias Ørnes Andersen
Einar Solberg (Synthesizer)
InsideOut
58:11
19.08.2011