Ist schon ulkig zu lesen, welche Anstrengungen mancher Kollege der schreibenden Zunft unternimmt, um der flachen und verwaschenen Produktion von „Odysseus“ ein Gütesiegel verpassen zu können. Da wird sich nach der Decke gestreckt, als wäre dort oben mehr als ein Haken, an dem man seine (Klang)-Ansprüche aufhängen könnte. Da wird die Produktion „schlicht und trocken genannt“ und der Gesang „weinerlich“. Doch sind diese Anmerkungen keineswegs negativ gemeint. Nein, wir sollen das GUT finden. Hmmpf.
Dabei kann man die Passage mit der weinerlichen Stimme unterschreiben, wobei das so dramatisch nicht ist, man gewöhnt sich daran und denkt, immerhin mal was eigenes in jenem Fahrwasser, das so viele Schiffe, die brav progressiven Rock voller symphonischer Momente, schräger Rhythmen und einigen Härten, transportieren, untergehen lässt. Womit wir bei der ersten Aussage wären. Schlicht und trocken ist an LEST Debütalbum, das immerhin rund 16 Jahre zum Reifen hatte, gar nichts. Wasser umgibt das Boot auf dem Cover, durch Wasser, Tod und Tränen muss sich Odysseus kämpfen, bevor er seine Frau wieder in die Arme schließen konnte. LEST inszenieren die Reise als großes Drama, da wird gegniedelt, gesäuselt was das Zeug hält, die Gitarren dürfen schwere Geschütze auffahren, während die Keyboards zwischen satten Fanfaren, Breitwandsound und elegischen Tupfern alles bieten, was der geneigte Freund symphonischer Rock-Klänge sich erhofft. Das können LEST sehr wohl. Was Abwechslungsreichtum und das Produzieren vielfältiger Stimmungen angeht, kann die französische Band („aus der Nähe von Straßburg“) mit den Größen des Genres mithalten. Und setzt mit dem finalen „Ways“ sogar ein beeindruckendes Ausrufezeichen.
Wie es sich für Musiker geziemt, die im Vorprogramm von ELOY aufgetreten sind, werden Glocken geläutet und bezüglich Thema und Motiv ist Poseidon nicht weit entfernt. Doch LEST sind frickeliger als die deutschen Urgesteine, flexibler im Umgang mit Stimmungen und Melodien. Das entgleitet ihnen leider manchmal, und so werden Töne und Gesangslinien langgezogen oder finsteren Experimenten unterzogen („Innocence & Experience“), bis man sich wünscht, es wäre jemand da, der dem opernhaften Pomp und Pathos ein vorzeitigeres Ende bereiten würde. Noch Wunschdenken. Potenzial haben LEST durchaus, insbesondere wenn man „Ways“ als Maßstab anlegt; mit einem „richtigen“ Produzenten, der Ideen und Ausführung bündelt und vor allem auch soundtechnisch aufpeppt, sitzt beim Nachfolger was richtig Gutes drin. So bleibt als
FAZIT: Engagiert, bemüht, sehr mäßig im Klang; das Klassenziel knapp erreicht. „Odysseus“ ist eine abwechslungsreiche, gelegentlich spannende, manchmal allzu jammervolle, meist hochemotionale Fußnote zur Reise des titelgebenden Helden, die unter ihrer leidlich semiprofessionellen Ausführung leidet. Die Schwarzweiß-Zeichnungen im Booklet sehen aus wie etwas, das der Banknachbar während des langweiligen Matheunterrichts angefertigt hat, und der Sound des Ganzen ist blass wie Winona Ryder nach einem Ladendiebstahl. Da können die werten Kollegen schreiben wie sie wollen: Er wird nicht besser davon. Aber diese freundliche Verzweiflung „Odysseus“ in höhere Regionen zu pushen, hat was Rührendes. LEST scheinen solche Gefühle auszulösen. Auch das muss man können.
Punkte: 9/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 08.12.2011
Pascal Rameix
Sabastian Mauve
Sabastian Mauve
Kickers, Sabastian Mauve, Pascal Rameix
Kickers
Artist Station Records
54:00
25.11.2011