Damit wäre die Sammlung dann wohl komplett. Mit „Hart Am Rand“ veröffentlichen Sireena Records das vierte und letzte Album der deutschen Krautrock-Gruppierung OCTOPUS, die zwei Alben lang („The Boat Of Thoughts“, 1977, „An Ocean Of Rocks“, 1978) ihrem künstlerischen Anspruch freies Geleit gewährten, bevor mit „Rubber Angel“ (1980) die Kehrtwende ins Kommerzielle erfolgte. „Hart Am Rand“ (1981), das mit seinem Cover immerhin bayrische Katholiken in Aufruhr versetzte und ein einjähriges Auftrittsverbot provozierte, setzt hier neue Maßstäbe: Die Anbiederung an die Neue Deutsche Welle, die gerade den Sprung in den Mainstream geschafft hatte, steht jedem der schrecklich albernen Songs ins Antlitz geschrieben.
Der Komplettierungswahn, allenfalls noch ein nostalgischer Drang, bleibt somit die einzige Daseinsberechtigung für das vorliegende Re-Release. Dennoch ein Kompliment an das Label: Es beweist nicht nur Durchhaltevermögen, sondern erweist dem Album mit dem Abdruck eines neutral geschriebenen Booklet-Hintergrundtextes des Frankfurter Musikjournalisten Detlef Kinsler die dringend notwendige historische Distanz. Zumal auch die Songtexte abgedruckt sind und der Klang der CD angenehm klar ist, kann an der Veröffentlichung kaum gemeckert werden.
Um so mehr dagegen am Album selbst, das anno 2011 als Neuentdeckung wohl nicht mehr viele Durchläufe überstehen wird. Der Fortgang von Sängerin Jenny Hensel wurde durch Michael Stein ersetzt, der eine Mixtur aus Marius Müller-Westernhagen und Falco zum Besten gibt. Aufgesetzt rockröhrend in der Breite, quietschig-hoch im Abgang, dazu immer wieder künstliche Abstopper („…und meine Hände sind nass, und mein Atem stockt – ockt – ockt“) – ein Traum. Insbesondere, wenn man bedenkt, WAS gesungen wird: Zwölfjährigen-Emotionsbeschreibung meets Party- und Drogenrock. Spätestens hier rentiert sich der Abdruck der Songtexte, denn ohne diese kleine Lesehilfe würde man kaum glauben, was man da hört.
Der Gimmickhaftigkeit des Gesangs gesellt sich auch die Instrumentierung hinzu, die gleich mit einem extrem käsigen Jackson-Five-Gedächtniseffekt eingeleitet wird. Ohnehin schreit die ganze Platte ihre Trendgerichtetheit aus allen Boxen. Einzelne Momente potenzieller Originalität liegen verborgen unter Bergen von Twist-, Rock’n’Roll- und Hard-Rock-Schablonen aus dem Do-It-Yourself-Katalog. Seinen Höhepunkt erlebt der Ruf an die Massen auf „Police lässt grüßen“, einer Reggae-durchtränkten THE POLICE-Ehrdarbietung, die mindestens ebenso behämmert wie offensichtlich ist. Mitunter ist die Vorgehensweise von OCTOPUS natürlich dann wieder so offensiv, dass man es beinahe als ironischen Kommentar zur Neuen Deutschen Welle verstehen könnte, insbesondere angesichts des radikalen Soundwandels – Kinslers Bericht lässt jedoch eher darauf deuten, dass es schlicht und ergreifend um den Spaß ging. Zu Lasten der mit den Jahren sicher nur noch unerträglicher gewordenen Musik.
FAZIT: Kleine Kostprobe gefällig? „Links im Wagen – sitzt ne Hexe! – Das beste wär – man versteckt se! Und rechts daneben – sitzt `n Typ mit Gebiss. Mein Freund und ich – wir gruseln uns ganz fürchterlich!“ – Nur eine von unzähligen Beispielen allerfeinster Geschmacksverirrung. „Hart Am Rand“ – eines dieser Alben, bei denen man am liebsten eine Zeitmaschine bauen, in die Vergangenheit reisen, die 80er-Jahre-Menschen alle einzeln am Kragen packen und schreien möchte: „Was denkt ihr euch bloß dabei?!?“
Punkte: 2/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 18.06.2011
Claus D. Kniemeyer
Michael Stein (Lead), Claus D. Kniemeyer, Georg Klivinyi (Backing)
Georg Klivinyi
Werner Littau
Seppl Niemeyer
Sireena Records
50:19
10.06.2011