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Stell dir vor, du hast den Namen OPETH niemals zuvor gehört. Du bist in einer fremden Stadt unterwegs und entdeckst einen kleinen Vinylladen in einer Seitenstraße; ein verblichenes Schild voller Schnörkel, die vor Jahrzehnten mal bunt gewesen sein müssen, hat dich darauf aufmerksam gemacht. Du betrittst den Laden. Das ausgeblichene Linoleum gibt unter deinem Schritt nach, in der Luft hängt der Geruch von Staub und Nostalgie. Der alte Mann an der Kasse beachtet dich nicht weiter. Weiter hinten entdeckst du eine Abteilung, in der ein mit krakeliger Handschrift versehenes Schild "70s Progressive / Hard Rock" verkündet. In der ersten Reihe stehen Platten von YES, CAMEL, JETHRO TULL, auch URIAH HEEP und LED ZEPPELIN sind darunter. Je weiter du jedoch nach hinten blätterst, desto mehr fühlst du dich wie Alice, die in den Kaninchenbau fällt: Die Bands werden unbekannter, die Cover absurder. Bis du am Ende auf das Album "Heritage" einer Band namens OPETH stößt. OPETH? Nie gehört – aber dieses Cover… es ist nicht gerade schön, allerdings verflucht surrealistisch. Und du denkst dir: Ein Album mit einem solchen Cover verdient eine Chance. Du ziehst es aus der Box und trägst es zur Kasse. Der alte Mann scheint ein wenig verwirrt, als er von seiner Zeitung aufblickt – zuerst darüber, dass er einen Kunden hat. Dann darüber, dass er in seiner Preisliste keinen Vermerk finden kann.
Will man bei Album Nummer X nicht aus allen Wolken fallen, sollte man besser umdenken und eine Zäsur ziehen: Einer der besten Death-Metal-Vokalisten nährt inzwischen die Ironie, der Death-Metal-Szene überdrüssig zu sein. Für OPETH, die ihren Reiz stets auch aus Mikael Åkerfeldts virtuoser Beherrschung des Kontrastes zwischen Growling und Clean Vocals bezogen, bedeutet das nichts Geringeres als den Anbruch eines neuen Zeitalters. Dabei hätte man doch noch jahrelang zuhören können, wie sich von "Still Life" über "Blackwater Park" hin zu "Ghost Reveries" und "Watershed" Stück für Stück Perfektion einstellte und eine Treppenstufe nach der anderen in die Unsterblichkeit des Prog-Olymps erklommen wurde…
Jetzt – Puff, the Magic Dragon – sind die Death-Metal-Parts einfach so dahin, die fließende Entwicklung abgewürgt. OPETH haben ein Classic-Prog-Album im verspielten Stil der 70er Jahre aufgenommen und werden Puristen den Schock des laufenden Jahres versetzen.
Dem verwöhnten Pöbel eine diskografische Amnesie zu verpassen, ist allerdings kein Ansinnen der Schweden. Vorhergehende Alben sollen nicht ignoriert, sondern als Ursprünge betrachtet werden, so lässt zumindest Travis Smith’ Covermotiv vermuten. Zwar ergibt das knallig bunte, detailreiche Gemälde einen gellenden Kontrast zu den geisterhaften Vorgängerartworks, doch die bisherige Bandgeschichte wird hier nicht ausgeklammert, sondern ausgiebig illustriert. Der urbane Geist, der immer schon über OPETH schwebte und selbst an den Geisterwald von "Blackwater Park" grenzt, steht am Horizont von "Heritage" in Flammen, während seine Bewohner, nennen wir sie "Fans", zu einer neuen Quelle pendeln, einer Quelle, die jenseits des Stadtgebietes schon immer existierte und tief verwurzelt ist mit dem OPETH-Sound: Ein Baum als Symbol der Fruchtbarkeit. Unter der Erde zieht ein siamesischer Teufel die verschnörkelten Fäden und erweist sich als Strippenzieher, als Wurzel, als ursprüngliche Inspiration. Der Dualismus von Tag und Nacht, von Gut und Böse bestimmt die Szenerie und unterstreicht die Bedeutung sich gegenseitig ergänzender Bestandteile. Die karikaturistischen Köpfe der Mitglieder im Baum mögen wie Fremdkörper wirken, pointieren aber den Humor Åkerfeldts, der seinen Death Metal stets mit einem Augenzwinkern vorgetragen hat. Dass Per Wiberg, der gerade erst ausgestiegen ist, seinen Kopf träge aus der Baumkrone purzeln und zu den Totenschädeln anderer ehemaliger Mitglieder stürzen sieht, muss man nicht als Respektlosigkeit verstehen; diversen Fratzen von KING CRIMSON- oder GENTLE GIANT-Veröffentlichungen wird damit einfach nur auf Augenhöhe begegnet.
Dass die Stadt in Flammen steht, bedeutet für die Anhängerschar, dass sie die Wahl hat, sich dem Marsch zum Baum anzuschließen oder in den alten Gemäuern zu Asche zu verbrennen. Geht den Weg mit oder verreckt - dermaßen konsequent und bitterböse sieht die Sachlage aus, aber: Muss es wirklich eine Überwindung sein, sich der neuen Marschrichtung anzuschließen?
So intensiv, wie "Heritage" die 70er Jahre atmet, werden die Leute Referenzen und Vergleiche aus dem Ärmel schütteln, Querverweise ziehen und alles historisch korrekt zueinander in Beziehung setzen. Als der Opener mit den zarten Klängen von Klavier und Kontrabass die aktuelle Suite eröffnet, schwirren auch Referenzen durch den Raum, natürlich; laut Åkerfeldt sei der schwedische Jazzpianist Jan Johansson (1931 – 1968) bei dem minimalistischen Stück eine Inspiration gewesen. Aber prägnanter als die Einflüsse vierzig Jahre alter Musik ist das Gefühl, das man hat, wenn man etwas tief Verborgenes wieder entdeckt – wie das Ausgraben einer Schatztruhe.
Was mindestens seit "Ghost Reveries" unter der Oberfläche schlummerte, wird mit einem Mal als pure, volle Frucht freigesetzt. So gesehen ist "Heritage" weniger eine Überraschung aus dem Nichts als vielmehr eine Überkonzentration an Zartheit, die schon immer da war, respektive eine Unterkonzentration an Härte.
Andererseits: Nicht einmal "Damnation", die einzige Veröffentlichung, die bislang ohne Death Growls auskam, lässt sich so richtig als Vergleichsobjekt anbringen. Die Stimmung ist einfach eine andere. Es geschehen Welten innerhalb der rund 55 Minuten, allerdings immerzu in diesem altmodischen Flair, das die Umgebung in Sepiatöne färbt. Dabei gehen OPETH ähnlich konsequent vor wie zuletzt PAIN OF SALVATION mit "Road Salt One", inszenieren den radikalen Kurswechsel allerdings nicht als Spektakel, sondern setzen auf angenehmes Understatement. "The Devil’s Orchard" gehört da mit den theatralischen Gospelorgeln und der diabolisch in zwei Oktaven gesungenen Zeile "God Is Dead" noch zu den schrillsten Beiträgen.
Generell steht verästeltes, leichtfüßiges Akustikgitarrenspiel im Zentrum, das hin und wieder mit härteren Elektrikakkorden aufgebrochen und zum verspielten Hard Rock verwandelt wird. Die Rhythmik besteht dabei fast mehr aus Percussion als aus Schlagzeug. "Slither" setzt das Tempo trotzdem hoch genug, dass man sich an MASTODONs Wege auf "Crack The Skye" erinnert fühlen kann, möglicherweise sogar an Jace Everetts Titelsong der TV-Serie "True Blood". Die Produktion macht jeden Griff auf der Tabulatur sichtbar; kaum druckvoll nach modernen Maßstäben, aber mit einer organischen Vinyl-Ästhetik, die sich der Musik optimal anpasst.
"Watershed" war von einem Perfektionismus getrieben, der dissonante Elemente bewusst als Kunst ausdefinierte. "Heritage" widersetzt sich diesem Trend. Zu seinen Qualitäten gehört, alles dem inneren Fluss zu überlassen und nur selten findet dabei intellektuelle Überzeichnung statt. Daraus resultiert beispielsweise, dass "The Lines In My Hand", das Stück, das als erstes geschrieben wurde, noch zu den unspektakulärsten und vor allem gröbsten Beiträgen gehört. Das Schlagzeug klingt wie Steingeröll, das unaufhörlich in einen ruhigen See plätschert, und Åkerfeldt ist so weit hinten in der Abmischung, dass er wie eine Silhouette anmutet. Darauf folgend ist der Achtminüter "Folklore" gleich wieder ein anderes Universum, das sich intern teilt und sich ab Minute 5 vom verspielten Saiten- und Tastenjam in eine echte Machtdemonstration verwandelt, was Stimmung und Atmosphäre anbelangt.
Und ähnlich sanft, wie mit Klavier eröffnet wurde, wird mit der akustischen Gitarre der Fadeout eingeläutet – ein erneuter Dualismus, wie er sich in den unterschiedlichsten Verkörperungen durch das komplette Album zieht.
FAZIT: Album Nummer 10 mutet an wie die Reinkarnation einer längst vergessenen 70er-Jahre-Perle. Ganz ohne den intellektuellen Tand der Postmoderne, der im Tarantino-Stil um jeden Preis alle relevanten Prog-Klassiker rezitieren muss. Nein, "Heritage" klingt auf angenehme Weise angejährt und unspektakulär, wie schon immer da gewesen und erst jetzt entdeckt. Eigentlich hat es nur einen echten Makel: Es enthält seinem Publikum etwas vor, das sich in der Vergangenheit mehr als bewährt hat – Growling mit Engelsgesang und Extreme Metal mit Mellotron-Prog im harmonischen Verbund. Diese Mischung ist jetzt passé. Nun frisst das Gewohnheitstier ja in der Regel das, was es kennt. Es liegt also nun am Käufer, ob er sich durch die Neuausrichtung ein komplett anderes, aber dennoch großartiges Album vergrämen lässt. Dabei ist die neue OPETH keineswegs mit Vollkommenheit gesegnet. Für den offenen Geist ist sie aber eine willkommene Herausforderung und für die Zukunft verspricht sie schon eine gewisse Langfristigkeit, die verhindern wird, dass man sie irgendwann als exzentrischen Ausrutscher bewerten wird.
Punkte: 12/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 06.09.2011
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