Kreativität ist gut. Kreativität und die finanziellen Mittel, diese auch nach den eigenen Vorstellungen umsetzen zu können, umso besser. Deshalb hinkt der folgende Vergleich auch ein wenig.
Aber nach all den rührigen DVDs – vor allem – progressiver Rockbands, die ihre Auftritte mehr oder weniger professionell mitfilmen lassen, mal mit besserem (Dolby)- mal mit durchschnittlichem (Stereo)-Sound, ist der Live-Auftritt PETER GABRIELs mit dem NEW BLOOD ORCHESTRA ein visueller Genuss erster Güte. Sogar der Bonus-Film „Blood Donors“ ist sehenswert. Kein dröger Werkstattbericht, in dem die Hauptverantwortlichen erzählen wie die Songs entstanden sind, wie sie überhaupt musizieren oder im Falle von Solokünstlern, endlose Elogen darüber abhalten, dass sie gerade mit der „besten (Begleit)band der Welt“ unterwegs seien – bis zur nächsten Combo.
Hier sitzen Menschen, die etwas zu erzählen haben, werden ansprechend belichtet, dass selbst die ziemlich abgegraste Spielwiese „Making Of“ einen ganz eigenen Reiz bekommt. Und sogar über mehrere Sitzungen nicht langweilt – zumindest nicht Zuschauer, die ihr Englisch aufbessern wollen. Denn PETER GABRIEL ist ein wortgewandter Reiseleiter in die Welt seiner Musik und deren multimediale Umsetzung. Und wenn er entspannt dasitzt und davon erzählt, wie ungewöhnlich es für ihn ist, mit einem klassischen Orchester zu arbeiten, denn „viele Rockmusiker arbeiten sehr langsam im Studio“, hat er den Schalk nicht nur im Nacken sitzen, sondern auch in den Augenwinkeln. Mittlerweile sollte es sich herumgesprochen haben, dass GABRIEL einer der penibelst arbeitenden Musiker überhaupt ist. Seine hohen Ansprüche vertragen sich nicht mit einer Welt, die ihr Heil in schnellen Erfolgen sucht.
Weswegen er sich auch zwischen den Welten am Wohlsten fühlt. Was Fans immer wieder in die Verzweiflung treibt, die auf neues Material von ihm warten. Doch mit den Varianten, die er von Bestehendem abliefert, erschafft er herausragendes – oder zumindest diskussionswürdiges. So auch mit „New Blood – Live In London“.
Eigentlich eine logische Erweiterung des „Scratch My Back“-Konzepts. Nicht nur fremde Stoffe im symphonischen Gewand zu covern, sondern die eigenen ebenso. Und da hat GABRIEL ja einiges zu bieten.
Dass die Grundlagen seiner Musik schon viele symphonische Momente in sich tragen ist unbestreitbar. Trotzdem besteht die Gefahr, gerade diese Nähe zu überreizen und mit Pauken und Trompeten unterzugehen. Überlade etwas, dem schon im rockigen Format der Hang zu orchestraler Opulenz innewohnt, und du gehst in einem vollfetten Klangbrei unter. Oder, genauso schlimm, eine Rockband spielt reichlich beziehungslos neben einem Orchester ihren Set runter (METALLICA können ein Lied davon singen. Eigentlich sogar mehrere.).
PETER GABRIEL entgeht der zweiten Gefahr, indem er komplett auf Rockinstrumentarium verzichtet. Und der ersten, indem er und sein vorzüglicher Arrangeur John Metcalfe das Gespür besitzen, die gewählten Lieder nicht zu überfrachten, ihnen in ihrer klassischen Instrumentierung Kantigkeit und Reduktion zuzugestehen, wo es nötig wird. So ist die orchestrale „Biko“-Version, schon von der Anlage her DIE Versuchung einen emotionalen Tränendrücker für Gutmenschen auf die Bühne zu stellen, die aufs Wesentlichste reduzierte und ergreifendste, die bislang zu hören war. Hier tritt der ganz seltene Fall ein, dass Mehr einmal Weniger ist und so genau den Punkt trifft, der Intellekt und Gefühl vereint.
Die Coverversionen haben ihre orchestrale Bewährungsprobe bereits hinter sich, und wer mit „Scratch My Back“ nichts anfangen konnte, wird auch jetzt nicht glücklich damit werden. „Book Of Love“ (bereits in Zelluloid verewigt durch das fantastische SCRUBS-Finale) bekommt, durch die im Hintergrund laufenden filmischen Grafiken, einen so witzigen wie erdenden Kommentar verpasst. Getoppt dadurch, dass der alte Schlehmihl GABRIEL gleich darauf das niederschmetternde „Darkness“, vom letzten Album mit Originalsongs „Up“, folgen lässt. Was uns wieder den langsam arbeitenden Rockmusiker ins Gedächtnis ruft. Neun Jahre sind seitdem vergangen. In denen PETER GABRIEL auf andere Weise durchaus präsent war. Ohne einen neuen Ton.
Nicht nur die langsamen, düsteren und melancholischen Stücke funktionieren im orchestralen Gewand. Auch das schwierige, weil im Ursprung von Elektronik geprägte, „Rhythm Of The Heat“, wie auch „Red Rain“ „Digging In The Dirt“ und vor allem das eigentlich schon abgenudelete „Solsbury Hill“ glänzen in der stromlosen und vielköpfigen Bearbeitung. Unnötig zu erwähnen, dass die Besetzung des NEW BLOOD ORCHESTRA eine fehlerlose Leistung an den Tag legt.
Lediglich Sängerin Ane Brun kann KATE BUSH in ihrem „Don‘t Give Up“-Part nicht das Wasser reichen. Aber das gibt Raum zum Träumen. Frau BUSH hat tatsächlich ein neues Album am Start, und wenn Herr GABRIEL dann auch mal wieder so weit ist – könnte man sich auf der Bühne (oder im Studio?) doch mal wieder für ein Stück vereinen. Vielleicht sogar bei „Games Without Frontiers“.
FAZIT: Leider kein „Sledgehammer“. Das mit Orchester aufzulösen hätte seinen ganz eigenen Reiz. Vielleicht beim nächsten Mal. Bis dahin bleibt eine DVD, die zeigt wie gefilmte Live-Auftritte aussehen können. Eigentlich sollen.
Menschen, die sich nicht nur Gedanken über Klang und Umsetzung der Musik machen, sondern auch über die visuelle Präsentation. Wobei die Kamera, die mittels eines Gestells direkt auf GABRIELS Gesicht gerichtet ist, robuste Mägen voraussetzt. In der 3D-Version vermutlich besonders. Die es auf spezieller Blu Ray zu bestaunen gibt. Aber das müsst ihr selbst beurteilen, ob euch der 3D-Effekt den Mehrpreis wert ist. PETER GABRIEL, nach eigenem Bekunden SciFi-Fan der ersten Stunde, steht drauf. Wer’s mag.
Die DVD sieht und klingt auch ohne räumlichen Schnickschnack verdammt gut (aus).
Erschienen auf www.musikreviews.de am 18.11.2011
Peter Gabriel, Melanie Gabriel, Ane Brun
The New Blood Orchestra, Ben Foster (Dirigent)
Eagle Vison
162:00
21.10.2011