Wie anders als „Phoenix“ hätte man diese Doppel-CD benennen können? Nicht nur stammte das POCKET ORCHESTRA aus der gleichnamigen US-Stadt; vor allem geht es hier um eine Formation, die vielleicht nur deswegen nicht in einem Atemzug mit den RIO-Referenzen HENRY COW und UNIVERS ZERO genannt wird, weil Leadgitarrist und Gründer Tim Parr früh starb und Bassist Tim Lyons und Schlagzeuger Bob Stearman ihm später folgten.
Grund genug also für eine späte, aber rechtmäßige Wiederauferstehung aus der Asche: Das italienische Label AltrOck fordert einmal mehr mit Nachdruck die Gehirnzellen seines anspruchsvollen Kundenstamms. Erstmals, seit MIO Records im Jahr 2005 eine inzwischen vergriffene CD auf den Markt brachte, springt das Orchester wieder aus der Tasche und entfaltet einen Strauß aus Gitarren, Saxophonen, Klarinetten, Celli, Keyboards und Flöten, den der verrückte Hutmacher so auch hätte zusammenstellen können.
Wie schon bei der 2005er-Veröffentlichung besteht die Studio-CD aus einer Zusammenstellung von 1983er Aufnahmen unter dem Namen „The Pocket Orchestra“ und 1978 / 79er Aufnahmen unter dem Namen „Knêbnagäuje". Neu und exklusiv ist das Live-Material auf einer zweiten CD, die sich aus Auftritten aus den Jahren 1980 bis 1984 zusammensetzt.
Fest steht: Wer beim POCKET ORCHESTRA schnell aufgibt, hat verloren. Sporadisches oder einmaliges Zuhören kann den Eindruck nahe legen, das Kollektiv prügle instinktiv und planlos wie ein Kind auf seine Instrumente ein und etwas von künstlerischem Wert müsse man dabei vergebens suchen. Tatsächlich mutet gerade das Zusammenspiel der Musiker noch chaotischer und damit unstrukturierter an als bei den auch nicht gerade zimperlichen Genrekollegen; gleichwohl, und das stellt man nach spätestens einem halben Dutzend Durchgängen fest, wird hier keineswegs irgendwas dem Zufall überlassen. In seinem Ablauf gleicht das Taschenorchester eher einer hoch komplizierten Spieluhr als einem Amoklauf.
Neben HENRY COW drängen sich vor allem SAMLA MAMMAS MANNA und in Partituren auch frühe KING CRIMSON als Vergleichsobjekt auf, doch allenfalls KING CRIMSON kommen in Schlüsselmomenten auch wirklich in Frage, um das trippelnde Zirkus-Jazz-Flair anzudeuten. Im Wesentlichen operiert das POCKET ORCHESTRA ohnehin fernab von Vergleichen.
Zu „Knêbnagäujie"-Zeiten steht der kauzige Experimentalismus und ein großer Schuss Humor noch im Mittelpunkt. „Grandma Coming Down The Hall With A Hatchet“ (toller Titel) beispielsweise bedient sich ungeniert der wohl meistgebrauchten Zirkusmusik-Schablone überhaupt und transferiert sie radikal in eine von E-Gitarre geprägte, verzerrte Nebelschleierwand, bevor die Rhythmik sich alle paar Sekunden wie ein Chamäleon wandelt – von Rumba zu Samba, Bar Jazz, 70s-Disco, Blues, Hard Rock und so weiter, während die Flöte unschuldig ihre vogelfreie Melodie über den Äther schickt. Das ist bezeichnend für den gesamten zweiten Teil der CD, die betont schnell von einer Passage in die nächste überleitet.
Auf den „Pocket Orchestra Tapes“ dagegen geht die Truppe schichtartiger vor. Motive werden gerne mal öfter wiederholt und ziehen sich im Hintergrund als roter Faden durch das gesamte Stück (beispielsweise im Bassspiel auf „Imam Bialdi“). Obwohl der Sound gerade durch den dominanten Einsatz einer Klarinette und eines Saxophons sehr trocken wirkt, so dass man in jeder Sekunde einen radikalen Richtungswechsel erwarten muss, verfügt jedes Stück über einen gesetzten Moment aus Hall und Atmosphäre, der wie ein Donnerschlag durch Mark und Bein geht und kurz die Luft anhalten lässt.
Die Live-CD ist ebenso wie die Studio-CD mit 79 Minuten ein echter Datensprenger und präsentiert die abstrakten Soundgebilde im Band-Kontext geschlossener und irgendwie „synchroner“ – alles, was in den Studioaufnahmen irgendwie zeitlich versetzt klang, spielt sich hier auf einmal ab. Anhand von drei Stücken (Blueing, Letters, Regiments) lassen sich die Unterschiede direkt hörbar machen, da diese sowohl als Studio- als auch als Liveversion vorliegen. Gerade „Letters“ ragt dabei heraus aufgrund eines schier wahnsinnigen Drumsolos.
FAZIT: Nach ABRETE GANDUL und THE NERVE INSTITUTE habe ich Platten von AltrOck ohnehin schätzen gelernt – dass sich das Label jetzt auch um die Vergangenheit kümmert und alte Schätze ausgräbt, macht es auch nicht unsympathischer. Für meinen persönlichen Geschmack geht das POCKET ORCHESTRA mit seinem extravaganten Avant-Prog zwar eine Spur zu kalt vor, so dass ich die bekannteren Kollegen immer noch vorziehen würde; eine kleine Wunderkiste erwartet einen auf „Phoenix“ aber schon, wenn man Zeit und Geduld aufbringt, sich reinzuarbeiten. Sehr schön auch, dass es gegenüber der 2005er Auflage von MIO einen Mehrwert in Form der Live-CD gibt. Das Booklet indes enthält überwiegend Auszüge aus der bereits 2005 erschienenen Band-Retrospektive von CARTOON-Keyboarder Scott Brazieal, der mit POCKET ORCHESTRA oft getourt ist. Hinzugefügt wurde ein kurzes Nachwort von Marcello Marinone und Francesco Zago zum Re-Release.
Punkte: 10/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 04.12.2011
Tim Lyons
Joe Halajian ("incidental vocals")
Tim Parr
Craig Bork
Bob Stearman
Joe Halajian (Saxophon, Klarinette, Waldhorn), Bill Johnston (Cello), Craig Fry (Flöte), Warren Ashford (Tabla), Jack Chandler (Saxophon)
AltrOck
79:02 (CD 1) + 79:22 (CD 2)
27.09.2011