PROTO-KAW waren schon immer mehr als ein Lückenbüßer für Kerry Livgrens Aktivitäten jenseits von KANSAS. Experimentierfreudiger, stilistisch offener und vor allem schwer verträglichen AOR mit weichgespülten Pathos abhold, mit dem KANSAS in dunklen Stunden nur allzu gern liebäugelten.
„Forth“ toppt die beiden gelungenen Vorgänger noch und schließt in seiner Rauheit zu den „Early Recordings From Kansas 1971-1973“ auf; ist dabei natürlich klanglich weit überlegen, aber nicht ganz so wagemutig, auch ins wirklich Exzentrische hinüber zu gleiten. Grundlage bleibt ein vollmundiger symphonisch-melodischer Prog-Rock, der für Streifzüge in unterschiedliche Richtungen offen ist. So ist „Daylight“ ein kraftvoller Einstieg, bietet Hardrock mit einem Gespür für jazzige Bläsereinlagen. Eine Art KANSAS-trifft-frühe-CHICAGO-Jam und beide lassen die Sau raus. „Pilgrim’s Wake“ beginnt wie eine ausgefeilte KANSAS-Ballade, flacht ein wenig ab, um dann mit Flötentönen JETHRO TULL die Ehre zu erweisen, und dem Song die Substanz zu geben, die er braucht, um im Gedächtnis zu bleiben. Das anschließende „Pollex“ wiederum ist ein melodischer Rocker mit laid back Atmosphäre, der im letzten Drittel aus den Puschen kommt und zwischen reggaefizierter Orgel und Hardrock sein fröhliches Auskommen findet.
Nicht jeder Song ist derart extravagant und auf bewusste Kontraste hin ausgearbeitet; aber jedes Stück hat seine Momente, die aus einem durchschnittlichen Melodic-Rock-Song etwas Besonderes machen. Ob es eine TULLsche Flöte ist, angedeutete Ausflüge ins Groß-Symphonische („Cold And Clear“), die aber umgehend wieder geerdet werden; das großstäditsche Laissez-faire STEELY DANs („Sleeping Giant“), das prägnante, eher am Jazz als an VAN DER GRAAF GENERATOR orientierte Saxophon-Spiel John Boltons und Jake Livgrens, oder die Gesangsharmonien, die manchmal vage an eine der CROSBY, STILLS, NASH & YOUNG-Inkarnationen denken lassen. Nicht zu vergessen, die niemals platten KANSAS-Anleihen: „Forth“ bietet viel Abwechslung und Fortune für relativ wenig Geld. Kerry Livgren und seine findigen Kollegen sind natürlich versiert genug, das alles nicht in seine Einzelteile zerfallen zu lassen, sondern eine kompakte Gesamtleistung abzuliefern. Und das auf einem hohen Level voller Überraschungsmomente, sodass man sich nicht einmal wundern würde, wenn auf „Greek Structure Sunbeam“ plötzlich SADE den Gesangspart übernehmen würde.
FAZIT: Das nennt man wohl den zweiten Frühling. „Forth“ ist ein höchst abwechslungsreiches Album geworden, das die Musikgeschichte der letzten 50 Jahre aufgesogen hat und Einfallsreiches damit anzustellen weiß. PROTO-KAW sind zwar im gediegenen (Progressiven)-Rock zu Hause, können aber quer durch den Stilgarten wildern, um dieses Haus bunt auszuschmücken. Dank produktionstechnischer Sorgfalt (immerhin hat sich die Band drei Jahre Zeit genommen für ihre Vierte) und musikalischem Geschick wird kein beziehungsloser Mischmasch daraus, sondern eine verzweigte Heimstatt, in der man sich wohlfühlt.
Punkte: 11/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 07.10.2011
Craig Kew
Lynn Meredith, Kerry Livgren (bv), Dan Wright (bv), Craig Kew (bv), Jake Livgren (bv)
Kerry Livgren
Kerry Livgren, Dan Wright
Mike Patrum, Kerry Livgren (perc.), Dan Wright (perc.)
John Bolton, Jake Livgren
Numavox/Just For Kicks
61:34
07.10.2011