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Ray Wilson: Genesis vs. Stiltskin

Stil: Rock / Pop / Progressive

Cover: Ray Wilson: Genesis vs. Stiltskin

Der Titel dieses fülligen Päckchens ist dahingehend unsinnig, dass Monsieur WILSON mitnichten seine beiden Betätigungsfelder gegeneinander antreten lässt, sondern vielmehr ein wertiges Bündel Musik zum 20. Bühnenjubiläum schnürt - das neue STILTSKIN-Album "Unfulfillment" sowie die Live-Vollbedienung "Genesis Classic - Live in Poznan", ein Gemeinschaftsunterfangen mit den Berliner Sinfonikern.

Beginnen wir mit "Unfulfillment", für das STILTSKIN nichts dem Zufall überlassen, sondern das Songwriting teilweise und die Produktion ganz in deutsche Hände (Peter Hoff) gelegt haben. Ein neues "Inside" ist dabei nicht herausgekommen, dafür ein Album voller Formatsongs, was nicht despektierlich gemeint ist: Die Könner haben dem Schotten ein perfektes Hochglanzparkett ausgelegt, auf dem er gesanglich und textlich brillieren kann. "Accidents Will Happen" fungiert als programmatisch krachender Opener und besitzt wie auch der Rest üppige Streicherarrangements. Noch mehr aufs Radio zugeschnitten als "American Beauty" oder "More Than Just A Memory" geht es eigentlich kaum, doch wenn spielerische Qualität sowie inhaltliche Tiefe stimmen wie hier, lässt man sich das gefallen. "The 7th Day" gerät besonders dringlich, obwohl man zu gerne einmal hören würde, wie WILSON richtig aus sich herausgeht, aber der gute Mann ist eben ein Edelrocker und wird im Leben nicht schreien.

"First Day Of Change" gilt als Videosong besondere Aufmerksamkeit. Es handelt sich um eine Ballade, die WILSON auch durchaus bei GENESIS hätte verbraten können, also gilt auch hier: Mehr dieser Art im Radio, und man wüsste wieder, wofür man Gebühren zahlt. "Tale From A Small Town" (auf der Ostseite der Elbe) stellt heraus, was ein findiger Produzent aus ein wenig Klavier, Streichern und einem guten Text zimmern kann. Der Teufel beziehungsweise die Güte stecken im Detail eines oberflächlich plätschernden Liedes. "14th March 1962" befasst sich kritisch mit Nostalgie und klingt dennoch danach, "She Flies" hinterher vielleicht sogar mehr. Die beiden Songs stehen programmatisch fürs Gesamtalbum, das einen schwebenden Charakter besitzt.

Überraschenderweise wird die Scheibe zum Ende hin musikalisch wie textlich interessanter: "Guns Of God" tangiert das leidige Thema Religion und Krieg, wobei sich WILSON auf die Israeli Conscientious Objectors - Kriegsdienstverweigerer sind im Heiligen Land eine große Sache - beruft und dies in eine düster schwere Elegie übersetzt. Die eingespielten Stimmsamples bedrücken, und auch "Old Man And The Portrait" (wiederum der ambivalente Blick auf die Vergangenheit beziehungsweise das Alter) stimmt eher betrübt. Hier zeigt sich die Berechnung hinter der Liedreihenfolge: Der Gebrauchsmusikfreund nimmt mit den offensichtlichen frühen Stücken Vorlieb, doch der eigentliche Kommher schickt sich erst zum Schluss an. Passend dazu mahnt "Ought To Be Resting" die Neurosen der Hochgeschwindigkeitsgesellschaft heutzutage an - ein klasse Abschluss eines letztlich doch weniger beliebigen Album, als man es zu Anfang gedacht hätte.

Bei der orchesterschwangeren Aufbereitung (eingespielt mit seinen eigenen Musikern kurz vor Weihnachten 2010) diverser GENESIS-Klassiker werden natürlich sowohl heilige Kühe geschlachtet als auch fragwürdige Preziosen aus dem weiteren Bandumfeld angespielt. "Turn It On Again" überzeugt vom Fleck weg sowohl von WILSONs Entertainer-Fähigkeiten - die Polen werden zudem in ihrer Muttersprache begrüßt -als auch der stimmigen Einarbeitung der klassischen Musiker, denn von üblichem Classic-Meets-Rock-Kitsch wollten die Arrangeure nichts wissen. So wirkt auch "That’s All", einer der besten Achtziger-GENESIS-Songs, keinesfalls überladen, wohingegen vorm Uralt-Klassiker "Carpet Crawlers" Spannung herrscht, und natürlich: RAY WILSON ist nicht Peter Gabriel, die Umsetzung jedoch beseelt und angenehm anders - im Gegensatz zu "Congo", "Not About Us" und "Calling All Stations", die er auf dem finalen Album seiner ehemaligen Arbeitgeber ohnehin selbst eingesungen hat.

"Constantly Reminded" macht Werbung in eigener STILTSKIN-Sache, "Another Cup Of Coffee" für MIKE & THE MECHANICS (noch eine Radio-Nervband … die Genetiker haben wahrlich für musikhistorische Höhen und Tiefen gleichermaßen gesorgt). Hört man weitere alte Collins-Schoten, ist man beinahe geneigt, die Songs ans sich zu rehabilitieren, nachdem man sie mit Phils Stimme viel zu oft hören musste. Das gilt für "Another Day In Paradise", "I Can't Dance" und vor allem "Jesus He Knows Me", die zu den Highlights des Sets gehören. "In The Air Tonight" wird völlig minimalistisch auf der Akustischen dargeboten - der beste Weg, ein solch berüchtigtes Stück anzupacken, gerade weil das Original so von seinen Sounds lebt. So wird etwas ganz Neues daraus. "Shipwrecked" als Opener des zweiten Silberlings hat man ähnlich reduziert angepackt.

Mit "Ripples", das Piano und Streicher gleichermaßen prägen, bricht man den ruhigen Verlauf des Abends vorübergehend ab, denn "No Son Of Mine" kommt wieder üppiger daher, und was soll man von "The Lamb Lies Down On Broadway" sagen? Manche werden von einem Affront sprechen, doch näher an Gabriels Darbietung von dereinst wird man dem Klassiker auf der Bühne wohl nicht mehr kommen, auch wenn der Protagonist hier die hohen Töne umgeht. "Follow You Follow Me", GENESIS' angeblich erster Schlüpferstürmer, sowie "Change" sind eher vertrautes Terrain für WILSON. Am Ende hagelt es weitere Klassiker, namentlich das hier besonders kräftige "Land Of Confusion" und "Solsbury Hill" von Peter Gabriel, an dem WILSON sich stimmlich nicht verhebt. Dass "Inside" den Sack schließt, war nicht einmal abzusehen, wiewohl der Barde diesen Song vermutlich bis in alle Ewigkeit bringen muss.

Die DVD ist ausdrücklich als Bonus gedacht und bietet nur die Highlights beziehungsweise das brauchbare Material minderwertig ausgefallener Aufnahmen. Das tut der Chose auch in Stereo keinen Abbruch, denn viel mehr kann man fürs Geld nicht erwarten als diesen Hitreigen nebst einem neuen und recht nachhaltigen Mainstream-Rockalbum von STILTSKIN.

FAZIT: "Genesis vs. Stiltskin" ist nicht nur eine Rückschau auf 20 Jahre RAY WILSON, sondern ein Package mit hohem Gegenwert: Satte drei CDs nebst DVD sorgen garantiert für verzückte Gesichter unter Fans, während sich auch Neulinge in die Materie RAY WILSON einarbeiten dürfen. Vom Pechvogel, der ein unglückliches Erbe antreten musste und danach nicht mehr auf den Boden kam, ist der Schotte jedenfalls weit entfernt.

Punkte: 11/15

Erschienen auf www.musikreviews.de am 08.09.2011

Tracklist

  1. Accidents Will Happen
  2. More Than Just A Memory
  3. The 7th Day
  4. American Beauty
  5. Voice Of Disbelief
  6. First Day Of Change
  7. Tale From A Small Town
  8. 14th March 1962
  9. She Flies
  10. Guns Of God
  11. Old Man And The Portrait
  12. Ought To Be Resting
  13. Turn It On Again
  14. That’s All
  15. Carpet Crawlers
  16. Congo
  17. Another Day In Paradise
  18. Constantly Reminded
  19. Another Cup Of Coffee
  20. Jesus He Knows Me
  21. Calling All Stations
  22. In The Air Tonight
  23. Shipwrecked
  24. Ripples
  25. No Son Of Mine
  26. The Lamb Lies Down On Broadway
  27. Follow You Follow Me
  28. Change
  29. Not About Us
  30. Land Of Confusion
  31. I Can't Dance
  32. Solsbury Hill
  33. Inside
  34. DVD
  35. Congo
  36. Jesus He Knows Me
  37. Calling All Stations
  38. In The Air Tonight
  39. Follow You Follow Me
  40. Not About Us
  41. Solsbury Hill
  42. Inside

Besetzung

  • Bass

    Lawrie Macmillan

  • Gesang

    Ray Wilson, Ali Ferguson, Steve Wilson

  • Gitarre

    Ray Wilson, Ali Ferguson, Steve Wilson

  • Keys

    Filip Walcerz

  • Schlagzeug

    Ashley Macmillan

Sonstiges

  • Label

    Jaggy D / Soulfood

  • Spieldauer

    57:08 + 56:37 + 62:17

  • Erscheinungsdatum

    09.09.2011

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