Manchmal gibt es Erinnerungen an Musik, die gar nichts mit der Musik selbst zu tun haben. Im Falle von „Victor“ ist dies eine an Udo Kier (Christoph-Schlingensief-Muse, Andy-Warhol-Spezi, ein Schauspieler, der gerne und gut Figuren am Rande des Wahnsinns – und darüber hinaus – gibt), der als Verkörperung JIM MORRISONs in einer Zirkusmanege neben JIMI HENDRIX, BRIAN JONES und JANIS JOPLIN zur Schau gestellt wird. Diese Sequenz ist lange und eindrücklich haften geblieben, obwohl ich mich an das dazugehörige „Kleine Fernsehspiel“ nicht mehr erinnern konnte. Jetzt, im Zuge der Veröffentlichung von RIGONI/SCHOENHERZ‘ ehemaligem Doppel-Album „Victor – A Symphonic Poem“, remastered und üppig aufgemacht auf einer CD, fällt es mir wieder ein. Die kleine Szene entstammt Walter Bockmayers und Rolf Bührmanns (berüchtigt für ihre als Filme getarnten Travestie-Shows) Verfilmung des symphonischen Konzeptwerks. 1978, drei Jahre nach dessen Erstveröffentlichung.
RIGONI und SCHOENHERZ sind schon so zwei. 1970 und 1971 waren sie für die Beiträge Österreichs zum Eurovision Song Contest zuständig („Musik“ und „Falter im Wind“), spielten in diversen (eher lokal erfolgreichen) Bands und Projekten (u.a. "C-DEPARTMENT", "SCHÖNHERZ, RATZER, DOGETTE, RIGONI") zusammen und waren, sowohl gemeinsam wie einzeln, für diverse Soundtracks verantwortlich. Wer erinnert sich nicht an den Georg-Thomalla-Klassiker „Dornwittchen und Schneeröschen“ für den die beiden die Musik schrieben. Während RIGONI ziemlich in der Versenkung verschwand, findet man SCHOENHERZ auch heute noch recht erfolgreich im Musikalienhandel wieder, vor allem mit seinen „Rilke“- und "Hesse“-Projekten. Hier versammelt er mehr oder minder begabte, aber immer prominente, Damen und Herren des (deutschsprachigen) Kulturschaffens um sich und lässt sie, zu seinen (und ANGELICA FLEERs) Vertonungen, Texte der beiden unterschiedlichen Dichter vortragen.
Doch am ehesten werden RIGONI/SCHOENHERZ mit einem Namen verbunden. Nein, nicht WOLFGANG AMBROS. Obwohl durchaus möglich. Auch nicht mit ANDRÉ HELLER. Viel kürzer und trotzdem 1975 eine Doppel-LP lang: “Victor”.
Eine Zeit, in der es noch möglich war, den Zirkus als Mikrokosmos zu betrachten, als allegorische Besserungsanstalt, in der man sich den Weg hinaus ins Leben unter Schmerzen freikämpfen musste. Victor, titelgebender Held und trauriger Clown im Schatten der Wünsche seiner Eltern, tut genau dies: er wird erwachsen. Tolle Story. Da ich Zirkusse allerdings von klein auf ziemlich fürchterlich fand (da teile ich Victors Ansinnen zur Flucht vollkommen), bin ich eventuell etwas voreingenommen. Clowns, eher zum Fürchten als Lachen, Trapezkünstler kurz vorm Absturz, federbehelmte Pferdchen, die beständig im Kreis laufen müssen, alterssachwache Löwen, denen beim berühmten Dompteurstrick – Kopf in den Rachen - schon mal die Kiefergelenke ausleiern. Spaß, Sport, Sensationen, Nervenkitzel – überall, bloß nicht hier…
Dankbares Thema jedoch für eine kreative Künstlerschar. Die Victors Biographie zum großen Rocktheater aufarbeitet. Mit Orchester, feisten Keyboardsounds, pathetischen Gesängen, filigranen Gitarrenlinien und ausladenden Rhythmen. Oder wie es das Presse-Info auszudrücken beliebt: „ein Meilenstein des Prog-Rock, ein Konzeptalbum, das den Spagat zwischen orchestrierter Klassik und anspruchsvollem Rock auf einzigartige Weise vollzog.“
Einzig nicht unbedingt, aber artig schon. Aufgenommen u.a. in den Abbey Road-Studios, was die „Ob-La-Di Ob-La-Da“-Passagen möglicherweise erklärt, toben RIGONI/SCHOENHERZ durch diverse Musikstile. Wobei „toben“ nicht ganz der richtige Ausdruck ist. Wenn sie nicht gerade schleichen oder taumeln, bewegen sich die Musikanten mal unbeschwert, mal mit bemühter Kraft durch den Pop-, Rock-, Blues-, Jazz und neoromantischen, symphonischen Klangkosmos. Ohne Angst vor Bombast, Kitsch und ausufernden Instrumentalteilen, sowohl in kleiner Rockbesetzung wie mit vollem Orchester. Dazu singt Richard Schönherz mit jenem germanischen Akzent, den man früher schrecklich fand und heute charmant. Those were the days…
Manchmal landet man gar in der fein herausgeputzten Welt des Musicals; doch insgesamt ist „Victor“ eine bunte Wundertüte, aus derart unbedarft all die unterschiedlichen Genres und Melodien gezogen werden, dass man eigentlich nur baff in den Sessel zurücksinken kann, um anerkennend festzustellen: für mehr als 35 Jahre auf dem Buckel klingt das alles verdammt gut. Mal clever und ansprechend gemacht, gibt es immer wieder Sequenzen, die freudiges Kopfnicken hervorrufen; dann wieder dilettantische Episoden, aber auf eine ausgesprochen einnehmende Art. Nicht so wie Versager dilettieren, sondern wie Leute, die‘s einfach mal versuchen wollen, egal was dabei rauskommt. Eine Haltung, mit der heute kaum noch eine derart opulente Veröffentlichung entstehen könnte.
Als gar nicht kleine Schicht Zuckerguss fällt noch eine satte Portion Krautrockfeeling zwischen ELOY und GROBSCHNIITT an.
FAZIT: Ob ANDRÈ HELLER seinen Zirkus Roncalli mit dem Gedanken an „Victor“ gegründet hat, kann eine entsprechende Facharbeit ergründen. Das Thema Zirkus hat RIGONI und SCHOENHERZ auch nachdem sie der Welt ihren Monolithen geschenkt haben, nicht losgelassen. Das belastet „Victor“ aber gar nicht. Er sitzt immer noch gedankenverloren am Rand der Welt und starrt auf das verwirrende Treiben dort unten. Und seufzt tief. Uns gefällt das. Wir blättern uns durch‘s liebevoll restaurierte Booklet und lauschen andächtig den weitverzweigten Klängen, die nur ganz selten ein bisschen disharmonisch sind. Hach ja. Und natürlich darf man die unten stehende Wertung nur durch die Brille der nostalgischen Verklärung sehen.
Nicht zuletzt ist die Wiederveröffentlichung „Victors“ auch ein kleines Denkmal für einen im März verstorbenen, originären Musiker: KURT „SUPERMAX“ HAUENSTEIN, der auf diesem Album Bass spielt und beim „Song Of Life“ die Leadvocals übernimmt. Victor weint eine bittere Träne. Bestimmt.
Punkte: 11/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 13.05.2011
Kurt Hauenstein
Richard Schoenherz, Achim Buchstab, Kurt Hauenstein, Wiener Akademie Kammerchor
Harry Stojka, Johan Daansen
Richard Schoenherz, Peter Wolf ("The Invitation")
Manuel Rigoni
The Royal Philharmonic Orchestra
MIG Music
75:48
29.04.2011