Die letzten drei Alben, an denen STEVEN WILSON hauptverantwortlich beteiligt war, konnten weder Fankreise noch Kritiker vollständig begeistern. Das erste Soloalbum „Insurgentes“ wurde mit Spannung erwartet und bot mit der attraktiven Mischung aus Art Rock, Shoegaze und Drone auch das gebotene Maß an Andersartigkeit gegenüber PORCUPINE TREE, doch rückblickend bleibt die Liebeserklärung an das Erleben und die Erfahrung eine durchwachsene Geschichte, mit brillanten Einzelmomenten zwar, aber auch mit allerhand Einladungen, die Skip-Taste zu betätigen. „The Incident“, das knapp ein Jahr später erschienene Jubiläumsalbum seiner Hauptbeschäftigung PORCUPINE TREE, ist zwar eine sträflich unterbewertete Großtat, spricht aber doch sehr einseitig den Kopf an und verweist den Bauch auf das Abstellgleis in Form einer zweiten CD mit „klassischen“ PT-Kompositionen, die wie schmucker Zierrat am Rand stehen. Mit dem Herz hängt kaum jemand am „Incident“-Zyklus; das war auch auf den Konzerten zu beobachten, bei denen das Publikum erst in der zweiten Hälfte auftaute, wenn ein Sammelsurium alter Hits gespielt wurde. „Welcome To My DNA“ von BLACKFIELD ließ dann Anfang dieses Jahres erst recht jegliche Euphorie abflauen – zu sperrig, zu spröde, zu sehr um Fortschritt bemüht.
Als dann auch noch mit „Grace For Drowning“ ein neues Solo-Doppelalbum angekündigt wurde, verloren die letzten „Hat der Typ überhaupt noch Zeit zum Schlafen?“-Sprüche endgültig ihren Reiz. Man hat sich längst daran gewöhnt, Wilson Resultate abliefern zu sehen. Ihm dann noch bei der Erklärung zuzuhören, wie er auf den Titel gekommen ist – weil er nämlich die oftmals überlieferte Ruhe eines Ertrinkenden einfangen wolle – hatte nach der „Insurgentes“-Muse („Ich war in Mexiko und wurde von Eindrücken überwältigt“) und dem „Incident“-Geistesblitz („Ich fuhr im Auto an einer Absperrung mit dem Schriftzug „Incident“ vorbei und überlegte, was für Geschichten sich hinter dem anonymen Wort verbergen mögen“) inzwischen enorme Ähnlichkeiten zu einem Stephen King, der sein neues Buch vorstellt („Ich hatte eine Schreibblockade, blickte auf meine Tapete und dachte mir, warum soll ich nicht ein Buch über Tapeten schreiben, die eine Kleinstadt terrorisieren?“). Eine Sorge um Wilsons Genie beherrscht die Diskussionen um seine aktuellen Ergüsse, die Erwartung einer kreativen Flaute in einem Meer uninspirierter Veröffentlichungen schwebt im Raum, doch eine Frage muss erlaubt sein: Wie viel von dem gefühlten Qualitätsverlust geht wirklich von der Musik aus und wie viel liegt beim Rezipienten selbst – in einer Kombination aus Erfahrungswerten bzw. Erwartungshaltungen („irgendwann MUSS die Qualität bei dem Output doch mal in den Keller sinken“) und nostalgischen Präferenzen (waren sie schön, die Zeiten von „Signify“, „Stupid Dream“ und „In Absentia“).
Mitten rein in die Diskussionen dann das: Der zweite Soloakt ist herausragend genug, um alle Aktivitäten des Briten seit „In Absentia“ in einen breiten Schatten zu hüllen und mit ihnen praktisch alle genreverwandten Erscheinungen seither. Ein Monat der Prog-Superlative erfuhr am Ende seine Krönung: „Grace For Drowning“ ist vielleicht das kompletteste, rundeste und reichhaltigste Werk, das der progressive Rock seit Jahren hervorgebracht hat.
Ob OPETH oder PAIN OF SALVATION - wer kürzlich in die 70er ging, klang zwar selten uninspiriert, aber zumindest immer auf eine Sache fokussiert und festgelegt. Wenn aber STEVEN WILSON seinen Scheinwerferkegel vierzig Jahre rückwärts richtet, macht er das mit einer bis dato ungekannten Allgemeingültig- und Zeitlosigkeit. Mitsamt seines kompetenten Mitstreiterstabs um alte Bekannte wie Theo Travis oder – nach den Remastering-Arbeiten am KING-CRIMSON-Backkatalog nur folgerichtig – diversen KC- und STICKMEN-Abgeordneten nutzt er die alten Stilmittel nicht etwa, um aus ihnen wohlige Nostalgie zu gewinnen, sondern um ihre Attraktivität auch für die Musik von morgen unter Beweis zu stellen. So sehr der Gesamteindruck, insbesondere aber die „Raider“-Teile und „Remainder The Black Dog“, mit flippiger Jazztrompete, Gitarrenhackwerk und hibbeliger Flöte KING CRIMSON folgt, so entspricht die Produktion doch modernsten Standards und widersetzt sich den dogmatischen Ansprüchen, denen beispielsweise OPETHs „Heritage“ (auch unter Mitwirkung Wilsons!) ganz bewusst folgte.
Deswegen ragt ein Stück wie „Index“ ganz besonders heraus: Nicht nur handelt es sich textlich um den wohl markantesten Beitrag, vor allem mit seiner industriell-elektronischen Anlage und dem schwelenden, klimatischen Aufbau steht es im wild schwirrenden Gesamtkontext des Doppelalbums wie ein diabolischer Antiklimax da. Zutiefst brillant platziert und arrangiert, bricht es stilistisch und dramaturgisch sämtliche Konventionen innerhalb des Albumkosmos. Ein gewagtes, aber gekonnt umgesetztes Spiel mit den eigenen Regeln.
Und wenn das schon funktioniert, dann funktioniert auch alles andere: Letzte „The Incident“-Bruchstücke sprechen plötzlich sogar das Herz an, „Deform To Form A Star“ ist dank der zurückgewonnenen Fähigkeit, große Melodien aus einfachsten Zutaten zu schreiben, wie direkt aus dem Leib des PT-Klassikers „Stars Die“ geformt, „Postcard“ hätte BLACKFIELD alle Ehre gemacht, egal auf welchem Album. Interludien wie „Belle De Jour“ versprühen Filmscore-Flair und sortieren die Stücke in cineastischem Aufbau, wiederkehrende Chöre aus unheilvollen Harmonien setzen passend dazu klassische Filmhöhepunkte. Das herausragende „Track One“ wiederum, ein in sich selbst ruhendes Meisterstück, greift die filmischen Elemente auf und mutiert zur mise-en-scène in Musikform, erklärt das Inszenieren selbst in drei mit starken Stimmungsbrüchen experimentierenden Akten zur eigenen Kunstform.
Die Zweiteilung indes ist weder einfach nur pragmatische Genre-Kategorisierung („einmal hart, einmal zart“) noch avantgardistische Wichtigtuerei; stattdessen führt sie zu einer enorm lebendigen inneren Dynamik sämtlicher Bestandteile. Die Kontraste stehen im idealen Verhältnis zueinander; Disc 1 trägt eher Züge einer Song-Compilation, während Disc 2 wesentlich schwieriger zu erschließen ist, wird sie doch entscheidend von dem sperrigen 23-Minuten-Monster „Raider II“ geprägt, dessen Ankunft auf Disc 1 durch „Raider Prelude“ schon mal Unheil verkündend vorbereitet wird. Sich durch diese Steinplatte zu meißeln, bedarf einer Menge an Geduld und Durchhaltevermögen, von ihr wird nicht zuletzt auch ein Großteil des Langhaltswertes bestimmt. Über „Like Dust I Have Cleared From My Eyes“ macht Wilson dann endlich Frieden mit sich und der Welt, der Ertrunkene hat die Panik hinter sich gebracht und schwebt dem Licht mit innerer Zufriedenheit entgegen, die auch der Macher dieser Platte offenkundig empfindet. Und das überträgt sich auf den Hörer: Fassungslos darf man sein darüber, wie sich Bekanntes und Bewährtes in neue Kontexte integriert, wie längst verlorene Stärken ihr Comeback feiern, wie aber auch neue Wege ergründet werden und obendrein alles in eine homogene Form gebracht wird.
FAZIT: Eines der wichtigsten Werke der letzten zehn Jahre – ist man zu diesem Zeitpunkt versucht zu sagen. Die Zeit hat uns schon oft eines Besseren belehrt, doch „Grace For Drowning“ weist im Gegensatz zu den anderen jüngeren Veröffentlichungen STEVEN WILSONs alle Eigenschaften auf, die dazu notwendig sind. Kopf und Bauch stehen endlich wieder im Einklang, und dass die 83 Minuten so verflucht schnell vergehen, ist auch schon der einzige Makel. Mehr geht nicht.
Punkte: 15/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 22.10.2011
Steven Wilson, Tony Levin, Nick Beggs, Trey Gunn
Steven Wilson
Steven Wilson, Markus Reuter, Trey Gunn, Steve Hackett, Mike Outram, Sand Snowman (Akustik)
Steven Wilson
Nic France, Pat Mastelotto (E-Drums), Steven Wilson (Percussion)
Steven Wilson (Piano, Autoharp, Gong, Harmonium), Jordan Rudess (Piano), Theo Travis (Sax, Flöte, Klarinette), Ben Castle (Klarinette), Nick Beggs (Stick), London Session Orchestra (Streicher), Dave Stewart (Streicher, Chor), Dave Kerzner (Sound Design)
kscope
39:43 + 43:27
30.09.2011