Für BETWEEN THE BURIED AND ME, das progressive Knüppelgespann aus North Carolina, sind musikalische Konventionen wohl das, was für den Vegetarier das Fleisch ist. Tommy Rogers, seines Zeichens Mitgründer jener Band und dort für die Tasten und das Gesangsgerät zuständig, wagt mit „Pulse“ einen Alleingang, der mit seinem Hauptbetätigungsfeld höchstens fünf Prozent gemein hat – und mindestens drei Viertel dieser fünf Prozent gehen für Grenzenlosigkeit drauf.
Harsche Vocals und wüstes Gebretter sind auf dem Elftracker bestenfalls hier und dort als Hintergrundrauschen zu venehmen. Viel mehr zelebriert Rogers eine stilistische Progressivsafari durch Singer/Songwriter-Liedgut, Indie, Electronica und Ambient, wobei der hier unter seinem Vor- und Zweitnamen agierende Musiker sämtliche Songwritinggesetze aushebelt und auch in puncto Instrumentierung jedem Stück nur genau das gibt, was es benötigt. Der rote Faden inmitten dieses wirr anmutenden, atmosphärisch dichten Schallwellenknäuels ist die Ausnahmestimme des guten Mannes. Eine Stimme, die ein beeindruckendes Spektrum an Lautstärken, Klangfarben und Ausdruck an den Tag legt, dass einem der Unterkiefer nach unten klappt, die Augen feucht werden, der Körper von Gänsehaut bedeckt wird und die Kaulquappe im Hals zu einer fetten Kröte wird.
Im Pressetext werden wunderbar treffend Parallelen zu RADIOHEAD, THE VERVE, BJÖRK, BECK, SPIRITUALIZED und STEREOLAB erwähnt, und da möchte ich mich mit dem Abfeuern meiner Assoziationen ebenfalls nicht zurückhalten: CSI-Laborszenensoundtracks („Catch & Release“ und „Reject Falicon“), DEVIN TOWNSEND goes Indie („Medic“), MEW go Pop („Reverb Island“), AMPLIFIER minus Soundwall (was die Dynamik betrifft), PURE REASON REVOLUTION und GENTLE GIANT (bezüglich der Vocalharmonien)... hach, macht das Spaß!
Das Album ist allerdings ein höchst eigenständiges Kunstwerk, bei dem all dieses inflationär erscheinende Namedropping bestenfalls als Nennung verschiedener Punkte in einem musikalischen Koordinatensystem zu gebrauchen und zu interpretieren ist, denn wenngleich man ganz gut vermuten kann, von wem sich THOMAS GILES hat inspirieren lassen, kann man ihm zu keiner Sekunde Plagiatismus oder Nachahmertum vorwerfen. Im Gegenteil, „Pulse“ ist so etwas wie Rogers' musikalisches Ego, denn sämtliches Hörbare wurde von ihm selbst erschaffen – von den Songideen und dem Songwriting über die Arrangements und die Aufnahmen bis hin zur Endproduktion lag alles in seinen Händen, und man kann sehr deutlich seine emotionale Verbindung zum Erschaffenen nachfühlen. „Pulse“ ist Tommy Rogers pur.
FAZIT: Dieses vor Liebe zum Detail beinahe zerberstende Meisterwerk gehört in den Plattenfundus eines jeden Musikfeinschmeckers, welcher auch nur ansatzweise open-minded ist. Sicher, „Pulse“ wird so manch metallischen Horizont gnadenlos übersteigen, doch wer bereit ist, aus dem Härtnerkorsett herauszuschlüpfen (oder sich gar nicht erst in ein solches zwängt), wird mit genreübergreifender Tonkunst auf höchstem Niveau belohnt.
Ich verneige mich respektvoll und bedanke mich, Herr Rogers.
Punkte: 15/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 15.01.2011
Thomas Giles Rogers (alles)
Metal Blade Records
44:30
28.01.2011