Es ist eine Binsenweisheit: man lernt nie aus. Das gilt auch (und vielleicht besonders) für Musikkritiker. Manchmal erfährt man dabei aber auch Sachen, die man nie wissen wollte. So z.B. über VAILE: dass sie mit Nachnamen Fuchs heißt und so etwas wie ein künstlerisches All-Inclusive-Paket ist. Denn VAILE spielt nicht nur Klavier und singt dazu, sie schreibt ihre Songs und Texte selbst (gemeinsam mit Kai O. Krug), ist außerdem Buchautorin („Frei Sein – mein Leben in der Wildnis“) sowie Schauspielerin. Fans der ARD-Soap „Marienhof“ dürften sie kennen, gehörte VAILE doch 2006/07 zur Stammbesetzung. Ich habe „Marienhof“ noch nie gesehen, kann also nichts zur schauspielerischen Leistung von Frau Fuchs sagen; doch die steht hier ja auch nicht zur Debatte.
Aber auch für ihr Wesen als Musikerin muss man ein wenig ausholen. Zum Bestand des unnützen Wissens, das ich mit mir herum trage, gehört ab sofort auch, dass VAILE Fuchs jedes Jahr für drei Wochen mit zwei Pferden in den Wäldern Skandinaviens, fernab jeder Zivilisation, Urlaub vom hektischen und elektrifizierten Streben der modernen Welt macht. „Frei Sein“ ist der Soundtrack dazu. Und das gleichnamige Buch das Script eines möglichen Films mit VAILE in der Hauptrolle? Müßige Spekulation.
Vor „Frei Sein“ hat VAILE bereits zwei Alben mit englischen Lyrics veröffentlicht. Hier gibt sie eine durchaus gelungene Mischung aus SHERYL CROW, KATE BUSH und ein Hauch von CELINE DION. Diese Ausrutscher im Schmalztöpfchen werden durch einige heftigere Ausritte kompensiert. Insgesamt Musik, die nicht wehtut, Melodien zum fröhlichen Mitwippen besitzt und besonders Autofahrten über wenig befahrene Landstraßen exzellent untermalen kann.
Jetzt aber „Frei Sein“. Ohne Auto, stattdessen mit 2 PS hinein in die Wälder, weit hinter Bullerbü. Ein klein bisschen KATE BUSH ist noch geblieben, und wenn das Presse-Info ENNIO MORRICONE erwähnt, ist ein Hinweis darauf gegeben, wohin sich VAILE orientiert. Nicht verkehrt, aber angekommen ist sie noch lange nicht. Obwohl das Pfeifen bei „Zug um Zug“ nicht nur an „The Good, The Bad and the Ugly“ erinnert, sondern auch fatal an RAMMSTEINs „Engel“ denken lässt. Eine Explosion bleibt aber aus.
„Frei Sein“ bietet meist balladeske Klänge, die von MORRICONEs Soundtracks ebenso beseelt sind wie von artifiziellem (nordischem) Folk. Es geht nicht explizit „unplugged“ zur Sache, aber die akustischen Instrumente beherrschen die Szenerie eindeutig. Klavier, Harmonika, Flöte, Violine, gelegentlich sogar ein komplettes Streichquartett geben sich ein Stelldichein mit Mandoline, Banjo und der recht exotischen Duduc. Die Musik ist entsprechend sanft, ein bisschen melancholisch, ohne traurig zu sein, ein bisschen fröhlich, ohne in Albernheiten abzudriften. Manchmal schwingt es sich geradezu in hymnische Höhen auf wie im starken Song-Trio „Fliegen“, „Zug um Zug“ und „Es ist wie es ist“. Mitunter havariert der atmosphärische Folk-Pop knapp an einem Zusammenstoß mit gemeingefährlich kieksendem Schlager a la YVONNE CATTERFELD vorbei („Du stehst in meinem Weg); kommt ins Schlingern und sucht erfolgreich einen Ausweg in immer noch softem Rock (inklusive fieser Gitarre auf „Dreh dich um“). Kann aber soweit den CHRISTINA STÜRMERs, JULIs und SILBERMONDs dieser Welt locker das Wasser reichen. In puncto Ideenreichtum und Melodienvielfalt sogar toppen.
Leider hat das Album ein großes Manko. Und das ist VAILEs Entscheidung Deutsch zu singen. Ihre keineswegs unangenehme Stimme wirkt blasser als auf den Vorgängern, die Texte bieten allzu oft bloße Trivialitäten oder verheddern sich in schwülstigen Wortgeflechten, die im Hause NAIDOO für große Freude sorgen dürften.
VAILE sagt über ihre Lyrics: „Keine philosophischen Höhenflüge, sehr greifbar gestrickt, weil ich einfach sagen will, was ich meine.“ Wenn diese Lektion dann umgesetzt heißt: „laß mich tun was ich tun muss“, dann sehen wir vielleicht John Wayne vor uns und denken, „einfach“ – ja, aber „greifbar“? Plattitüdenwalzer. Von derartigen Floskeln wimmelt es leider auf „Frei sein“.
„Es ist wie es ist es bleibt wie es bleibt […], wie lang ist jetzt wie weit ist hier“ („Es ist wie es ist“) oder ganz schlimm auf „Sie sieht die Welt“: „wo krieger fallen da heilen auch wunden“, das noch weitere lyrische Großtaten aufzubieten hat, die selbst NOVALIS nicht vertont hätten. Ist zumindest zu hoffen. Wäre sie doch beim Englischen geblieben.
Im besten Fall sind die Texte unauffällig oder von kleinen Alltagsbeobachtungen geprägt. Dann tut es nicht so weh und man kann die Musik phasenweise unbeschwert genießen.
FAZIT: Baden in ätherischem Wohlklang, schwelgen in folkigem Pop oder poppigem Folk. „Frei Sein“ ist eine ausdrucksvolle Gratwanderung zwischen Folk, Chanson, Filmmusik, Rock und Schlager. Nichts für den harten Metaller, außer am Morgen danach.
Wenn die Texte allerdings das widerspiegeln, was man bei einem Ausflug in die Wildnis erfährt, buchen wir doch lieber eine Städtereise.
Ich ziehe das stimmungsmäßig ähnliche, aber urbanere „Red Rain“ aus dem Jahr 2006 vor. Und ich werde einen Teufel tun, bei dessen Texten allzu genau hinzuhören, geschweige denn sie zu übersetzen.
Punkte: 8/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 15.02.2011
Gomez & Kai O. Krug
Vaile Fuchs
Gomez & Kai O. Krug
Vaile Fuchs
Lars Watermann
Gomez & Kai O. Krug, Clara Dubrovsky, Vera Spillner, Bratislava String Quartett
EAR Lab Records
46:07
18.02.2011