Die lettische Sängerin VIC ANSELMO dürfte DEINE LAKAIEN-Fans genauso bekannt sein, wie den Anhängern von DAS ICH. Bei erstgenannten spielte Vic auf der letzten Tour im Vorprogramm, bei zweiteren stand sie bei den diesjährigen Festivalauftritten mit auf der Bühne, um den erkrankten Stefan Ackermann zu vertreten und macht dabei optisch wie stimmlich eine gute Figur. Man durfte also gespannt sein, ob sich der gute Eindruck auf ihrem zweiten Album "In My Fragile" verfestigen würde.
Was erfreulicherweise der Fall ist. Die Sängerin hat nicht nur das Talent, ungewöhnliche Musik zu schreiben, sondern kann auch mit ihrer Stimme voll und ganz überzeugen. Egal, ob kräftig in den mittleren Lagen, verletzlich und fragil in ruhigeren Stücken oder auch wenn sie ihren Stimmbändern mal Höhenflüge genehmigt, stets kann das Gesungene Gefallen finden - lediglich das Vibrato setzt sie anfangs ein bisschen inflationär ein. Ihrer Musik wohnt dabei stets eine gewisse Theatralik inne, was Vic durch ihren Gesang zusätzlich unterstreicht. Beinahe schon spektakulär wird es, wenn sie die hysterische Wahnsinnige mimt, was in "Open Wide" am deutlichsten der Fall ist, hier übertreibt sie es so dermaßen mit der Exaltiertheit, dass es einem ein ganz breites Grinsen ins Gesicht zaubert. Ähnlich, aber nicht ganz so skurril geht es im abgedrehten Gothic Blues "Bone's Blues" zu.
Man merkt schon, VIC ANSELMO ist weit davon entfernt, standardisierten Gothic Rock oder Metal zu machen, ihre Musik ist so abwechslungsreich, dass sie kaum mit einem Begriff zu kategorisieren ist. Viele Electro-Elemente, harte Gitarren und Rhythmen von echten Drums und pumpenden Bässen sind das instrumentale Fundament, auf dem sie ihre ungewöhnlichen Songs aufbaut. Im düsteren, getragenen "More Than You Can Comprehend" erinnert das ein wenig an EVANESCENCE, dieser Eindruck verflüchtigt sich aber sofort mit dem erwähnten "Open Wide". An ihre Tourpartner DEINE LAKAIEN erinnert "Horizon" in so mancher Gesangslinie, die Musik ist hier electro-lastiger, der Refrain gefällt. Klassischer wird es bei "Wellspring", zunächst erklingen nur Klavier und Stimme, bevor immer mehr Streicher einstimmen. Dem Blues folgt mit "Ashes" eine dramatische, traumhaft schöne Ballade, die so ziemlich jeden ähnlich gearteten Song der letzten Jahre in den Schatten stellt.
Nach diesem Höhepunkt flacht das qualitative Niveau ein bisschen ab, bei den verbleibenden vier regulären Songs überzeugt zunächst das rockige Cover der DAS ICH-Nummer "Das dunkle Land", bevor das abschließende "The Day" mit spannendem Aufbau, Musical-Flair und Musik, die man schon fast als Progressive Gothic Rock bezeichnen kann. Die vier Bonustracks sind gut klingende Akustik-Liveaufnahmen: zwei eigene Songs, ein Cover von ANTIMATTER und ein traditionelles lettisches Lied, die alle vier bezeugen, dass VIC ANSELMO ihre Stimme auch auf der Bühne überaus gekonnt einzusetzen weiß. Das apokalyptische Artwork des Albums steht übrigens in direktem Zusammenhang mit den Texten, die eine Liebesgeschichte inmitten eines nuklearen Winters thematisieren.
FAZIT: VIC ANSELMO ist eine außergewöhnliche Künstlerin, die ein interessantes, teilweise sehr, sehr gutes Album geschrieben und aufgenommen hat. Die etwas schwächere zweite Albumhälfte sowie das Gefühl, dass man von der Dame vielleicht noch mehr erwarten kann, verhindern mehr als elf Punkte. Zudem darf beim nächsten Mal ruhig noch ein bisschen mehr Wahnsinn in den Songs vorkommen.
Punkte: 11/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 10.09.2011
Peteris Pass
Vic Anselmo
Herman Rigmant
George Kadolchik
Martinš Milevskis
Ivars Kalninš (Klarinette), Peteris Endzelis (Oboe), Raitis Rozentals (French Horn)
Danse Macabre / Al!ve
54:27
19.08.2011