Nach mehreren Jahren Pause veröffentlichen VOGELFREI mit „Der Dämmerung entgegen” ihr viertes Album. Wenn man ganz unvoreingenommen und vorurteilsfrei an das neue Werk herangeht (mir persönlich war die Band bisher völlig unbekannt), kommt man zu einer Einschätzung, die VOGELFREI und ihre Anhänger eventuell gar nicht gerne hören werden: Grob umrissen könnte man von einer rohen, ungeschliffenen Mischung aus REVOLVERHELD (vor allem im Gesangsbereich) und GREEN DAY sprechen. Aber man muss ja auch mal die Scheuklappen ablegen können, denn das Material bewegt sich tatsächlich überwiegend zwischen den beiden Polen Deutschrock und melodischer, durchaus kommerziell verwertbarer Punk Rock. Zwar klingen die Songs keinesfalls glattgebügelt, sondern eher nach energischen Proberaum-Sessions, aber die eingängigen Melodien haben Hitpotential. Gleich nach dem ersten Hördurchgang summt man noch lange Nummern wie „Niemand” vor sich hin.
Die Texte wirken überwiegend nachdenklich, melancholisch und auch leicht pathetisch. Oft wird von vergangenen Zeiten erzählt und auch immer von einem gewissen “Wir”-Gefühl geschwärmt. Diese Nostalgie wiegt umso schwerer, wenn man weiß, dass VOGELFREI mittlerweile eigentlich eine Art Soloprojekt ist. Immer wieder tritt der Zwiespalt zwischen der Sehnsucht nach der Jugend oder früheren Zeiten (die offensichtlich auch nicht einfach waren) und der harten Realität von heute hervor, was sicherlich einer Menge Leute aus der Seele spricht. Obwohl man sich das Ganze ein wenig poetischer oder wortgewaltiger wünschen würde, kann man deshalb wohl einige lyrische Defizite und die Schlichtheit der Texte mit „Authentizität” entschuldigen. Aber manche Passagen in Stücken wie „Wir flogen aus“, „Mit jedem Schritt“ oder „Solange Du hier bist“ klingen leider einfach unbeholfen und hölzern. Es hätte sicherlich genügt, hier und da ein wenig am Satzbau zu feilen, einzelne Wörter umzustellen oder auszutauschen. Stattdessen wirken z.B. folgende Sätze, als hätte man sie spontan geformt und kein zweites Mal darüber nachgedacht:
„Du wolltest hier weg – und abhalten davon – Konnte ich dich nicht“
„Und die Leute sind unzufrieden - Mit dem wie es ist“
„Es gibt nur eine Handvoll - Von denen auf die ich zähle“
Die lyrischen Patzer sind vor allem deshalb so ärgerlich, weil Ricky Alex ja nicht nur tatsächlich etwas zu sagen hat und sein Gefühlsleben entblößt, sondern auch über eine durchaus ausdrucksstarke Stimme verfügt. Sein leicht rauer und doch sehr melodischer Gesang wirkt oft wehmütig und vermittelt wirklich dieses gewisse „Geschichten aus dem Leben”-Flair. Zudem hat er die Gabe, ohne wirklich Sprünge mit der Stimme machen zu können oder zu müssen, mit kleinen, aber effektiven Melodiebögen richtig große Hooks zu schaffen.
FAZIT: Aufgrund der schwankenden Qualität bei der „Wortwahl” gibt es einen deutlichen Abzug, mir persönlich wird dadurch der Hörgenuss an einigen Stellen verdorben. Vielleicht hätte es schon geholfen, einen Außenstehenden über die Texte schauen zu lassen. Musikalisch kann man jedoch nicht viel beanstanden, von einigen ganz wenigen holprigen Schlagzeug-Passagen abgesehen. Die Songs klingen mitreißend und ungeschliffen, bieten aber gleichzeitig eingängige Melodien mit Pop-Appeal, packend vorgetragen von einer charismatischen Stimme. Wer sich in der Schnittmenge aus melancholischem Deutschrock und gemäßigtem, ordentlich strukturiertem Punk Rock zu Hause fühlt, aber nicht auf die gewisse „Street Credibility” verzichten möchte, sollte ein Ohr riskieren.
Punkte: 8/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 18.06.2011
Ricky Alex
Ricky Alex
Ricky Alex
Carsten Müller
Street Justice Records
42:35
13.05.2011