Selten habe ich dermaßen gefesselt vor einem Debüt-Album gesessen und meinen Augen und Ohren kaum trauen gekonnt. Und dafür gibt es jede Menge Gründe.
„Elinoire“ ist die vertonte 80-minütige Geschichte eines scheinbar glücklichen Familienidylls, das in der totalen Katastrophe endet und am Ende gar wie ein zum Klingen gebrachter Kriminalroman erscheint. Nur dass in diesem Falle kein Film entsteht, sondern ein Konzept-Album, das im Vergleich zu ähnlichen Musikwerken nunmehr seinesgleichen sucht!
Bereits das Cover illustriert in seiner Düsternis, dass einen hier bestimmt kein Gute-Laune-Pop-Rock erwartet, sondern die Musiker sich in die Abgründe der menschlichen Seele begeben. Wie selbstverständlich erscheint es da, dass sich metallischer Rock mit düsterem Metal und verspieltem Prog vereinen. Die Erwartungen sind hoch – und sie werden nicht nur erfüllt, sondern deutlich übertroffen. Schon beim Lesen der an „Elinoire“ beteiligten Musikernamen, die als Gäste tragende Rollen in diesem Werk übernehmen, überfällt einen ein ungläubiges Kopfschütteln:
BILLY SHERWOOD von YES
GARY WEHRKAMP & BERNDT ALLMAN von SHADOW GALLERY
JIMMY KEEGAN von SPOCK'S BEARD & SANTANA
und als integriertes Band-Mitglied sogar MAREK ARNOLD von TOXIC SMILE, SVEN STEPS TO THE GREEN DOOR, GABRIA und der STERN-COMBO MEISSEN!
Da läuft einem glattweg das Wasser im Munde zusammen und der Ohrschmalz verflüchtigt sich.
Doch bleiben wir erst einmal bei der Geschichte, die sich hinter diesem Album verbirgt, an dem der musikalische Tausendsassa MARTIN SCHNELLA gemeinsam mit KIRI GEILE und Unterstützung von BILLY SHERWOOD über zwei Jahre lang gearbeitet haben:
Lea und Adam Baltwin sind ein glückliches Ehepaar, die so etwa alles haben, was sich unser heutiges Kleinbürgertum sehnsüchtig wünscht – Geld und einen guten Job. Nur eins fehlt noch zu ihrer familiären Erfüllung: ein Kind. Doch gerade dieser Wunsch, den man sich nicht mit Geld erkaufen kann, bleibt jahrelang unerfüllt, bis endlich auch dieser Traum in Erfüllung gehen soll. Ein Traum, der ganz schnell zum Albtraum wird. Denn die Geburt ihrer Tochter „Elinoire“ muss Lea mit ihrem eigenen Leben bezahlen. Adam erträgt diesen Schicksalsschlag nicht und schlimmer noch, er gibt seiner Tochter die Schuld am Tod seiner geliebten Frau. Noch unfassbarer aber ist, dass sich plötzlich herausstellt, dass Leas Tod nicht wie vermutet ein tragisches Unglück, sondern ein wissentlich herbeigeführter „Mord“ war – und jetzt erst beginnt das wahre Drama von „Elinoire“, das man in dem 28-seitigen Booklet nachlesen kann!
Voller Neugier stürzt man sich spätesten jetzt auf den Silberling, der schnell für alle Freunde von AYREON, DREAM THEATER, SHADOW GALLERY oder SPOCK'S BEARD zu einem wahren musikalischen Goldstück wird.
Ähnlich wie man das bereits von AYREON kennt, agieren die unterschiedlichsten Charaktere auf dem Album und allein 16 Musiker erhalten eine spezielle Rolle, in welcher sie in der Geschichte immer wieder als Sänger auftauchen. Langeweile kann da definitiv nicht aufkommen. Aber auch die Vielzahl der Instrumente erscheint unendlich: neben Gitarren, Bässen, Keyboards und Schlagzeug sind das Flöten, Saxofon, Banjo, Mandoline, Synths, Mellotron, orchestrale Klänge, spannende Loops und vieles mehr. Ja, ja – die Holländer haben schon lange ihren ARJEN ANTHONY LUCASSEN und mit ihm AYREON – wir Deutschen haben endlich unseren MARTIN SCHNELLA und mit ihm FLAMING ROW. Doch im Gegensatz zu AYREON legen FLAMING ROW nicht solch großen Wert auf elektronische oder zu stark keyboardlastige Musik, sondern verstärkt auf metallische Gitarrenklänge, was wohl darauf zurückzuführen ist, dass Schnella eben in erster Linie Gitarrist ist.
Schon der mutige Beginn des Albums, der nach dem instrumentalen, atmosphärischen und von Keyboards getragenem Thema mit Satzgesängen à la SPOCK'S BEARD oder GENTLE GIANT an Fahrt aufnimmt, verblüfft. Ein einem MPi-Feuer ähnliches Schlagzeugspiel und brachiale E-Gitarren geben dann aber mit der „Overture“ die Richtung vor, die wie ein roter Faden den musikalischen Kosmos von FLAMING ROW durchzieht. Dazu der wirklich ansprechende, manchmal sogar faszinierende Gesang von KIRI GEILE, der immer wieder auf die anderen Vokalparts trifft, sich mit diesen ergänzt oder in krassem Gegensatz dazu einen stimmungsvollen Gegenspieler abgibt, zieht den Hörer nach wenigen Minuten in seinen Bann.
Selbst überraschende Rap-Einsätze stoßen nicht etwa ab, sondern erklingen wie ein selbstverständlicher Bestandteil dieser metallischen Symphonie. Besonders diese Gegensätze sind es, die „Elinoire“ so reizvoll machen. Kaum glaubt der Hörer, dass ein schweres E-Gitarren-Gewitter aufzieht, schon wird dieses von einer plötzlichen Akustik-Gitarre, einem durch die Gewitterwolken brechenden Sonnenstrahl ähnlich, abgelöst und nimmt dann mit einem Banjo Fahrt in Richtung Country auf, um kurze Zeit später wieder von E-Gitarren-Blitzen, Bass-Güssen und Keyboard-Donner von der grünen Wiese gejagt zu werden.
Eine Achterbahnfahrt durch Dream-Theater-Träume, die in der SYMPHONYsch eXakten SHADOW GALLERY enden und mit einer Story aufwarten, die selbst in einer Geisterbahn noch für zusätzlichen Schrecken sorgen würde. Genauso aber, wie das Album von musikalischer Härte beherrscht wird, tauchen auch immer und immer wieder die ruhigen, getragenen Musikpassagen auf. Solch ein Gefühl für die Gegensätzlichkeiten der Musikstimmungen muss man erst einmal aufbringen – und lange Zeit dachte ich, dass dies nur SPOCK'S BEARD in seiner ganzen Perfektion beherrschen würde. FLAMING ROW bekehrten mich eines besseren.
Seitenlang könnte ich seiner Vielfalt wegen jetzt noch über dieses Album philosophieren. Doch das wären am Ende alles nur (vielleicht sogar leere) Worte. „Elinoire“ muss man gehört haben – spätestens dann wird man verstehen, was ich hier auszudrücken versuche.
Allerdings will ich auch nicht verschweigen, dass dieses Album eine Besonderheit aufweist, die nicht unbedingt jedem gefallen wird. Fast in allen Songs von „Elinoire“ wird dem geschulten Ohr eines leidenschaftlichen Musik-Vielhörers die eine oder andere Parallele auffallen, die ihm so oder ähnlich schon bei den vielen hier bereits erwähnten Bands begegnet ist. Aber bei diesem leidigen Thema scheiden sich ja bekanntlich die Geister.
FAZIT: „Elinoire“ ist genau das Album geworden, auf das ich nunmehr schon seit Jahren sehnsüchtig von AYREON warte. Nein – es ist besser als das geworden. Ein grandioses Debüt, das die Latte für einen Nachfolger auf ungeahnte Höhen legt und nicht umsonst haben sich wohl Musiker von SHADOW GALLERY, YES, SPOCK'S BEARD, SEVEN STEPS TO THE GREEN DOOR und TOXIC SMILE zur Mitarbeit mit FLAMING ROW bereit erklärt. Hier kommt der klingende Beweis dafür!
PS:
Weil sie gar nicht alle in unsere Besetzungsliste passen – hier die Übersicht aller Sänger samt ihrer Rolle, welche sie in „Elinoire“ stimmlich übernehmen:
Adam Baltwin: LARS BEGEROW
Lea Baltwin: MICHAELA AUER
Elinoire Baltwin: JESSICA SCHMALLE
Cyrus Baltwin: SASCHA HABICH
Zachary Jones: DENIS BROSOWSKI
Liberty: BRENDT ALLMAN
Coscience: GARY WEHRKAMP
Past: BILLY SHERWOOD
Season: JIMMY KEEGAN
Destiny: KIRI GEILE
Death: MICHAEL LOWIN
Love: ANNE TRAUTMANN
Rage: KIM SPILLNER
Spirit: MARTIN SCHNELLA
Time: SANDRA THIELEMANN
Forgiveness: MARKUS FUNKE
Erschienen auf www.musikreviews.de am 09.07.2011
Martin Schnella, Kai Kleinewig
Vergleiche PS!
Martin Schnella
Marek Arnold
Niklas Kahl
Marek Arnold (Saxofone), Brendt Allman, Gary Wehrkamp, Andreas Schock, Jost Schlüter & Ali Neander (Gitarren), Verena Klauke (Flöte), Gary Wehrkamp (Keyboards)
Progressive Promotion Records
79:55
11.07.2011