„In Blau“ - ja, das war ich oft, als ich zum ersten Mal dieses Album hörte. Okay, das „In“ musste man dabei natürlich weglassen. Schließlich studierte ich 1982 gerade – und bei so einem allzeit fitten Sportstudenten gab's nur zwei echte Leidenschaften: Alkohol & Frauen! Schöne Scheiße auch – doch dann kommt diesem Ossi plötzlich eine Wessi-Band auf den Plattenspieler, nachdem der sich doch gerade von seiner West-Lieblingsband NOVALIS verabschiedet hatte, weil die mehr auf schlagertaugliche „Augenblicke“ (1981) stand und Texte fabrizierte, die mir als Deutschlehrer im Zweitfach die pure Schamröte ins Gesicht trieb.
„In Blau“ war anders! Das war purer Sex, versteckt hinter so einem belanglos anmutenden Titel wie „Sonnenzeichen – Feuerzeichen“, der eingeleitet von einem langsam lauter werdenden Orgelton plötzlich mit wundervoll zerbrechlichem, hohem und zugleich zartem Gesang von HARALD BARETH folgendermaßen begann: „Einfach in dich einzutauchen / Stürzen – fallen – trinken / Ohne Aufprall, ohne Schlag ...“ Und so was passierte mir 1982, auf dem Höhepunkt meiner triebvollen Selbstfindungsphase. Hallo! Hallo! Hier geht’s doch nicht nur um feurige Sonnenlyrik, sondern um die Faszination wirklich zärtlichen Sexes, aber nicht wilden Rumgerammels nach physikalischen Reibungsprinzipien. Es gehörte tatsächlich nicht viel dazu, das zu erkennen, man brauchte nur genau hinhören, die beinahe hypnotisch-ruhige Melodie auf sich wirken lassen und den Text in sich aufnehmen: „Durch deine Augen werden Nächte hell / Schau auf mich / Schatten brennen und verglühen schnell / Ich brauch' dich.“ So nahe liegen also Sex und Liebe beieinander – und so unendlich weit ist wohl zugleich der Weg, um beides für sich zu entdecken. Und nicht jeder hat wohl das Glück, diese Entdeckung im Laufe seines Lebens überhaupt zu machen, während er sich auf den Frauen oder unter den Männern stoßweise abarbeitet und denkt, dass dies tatsächlich „Liebe“ wäre. Ja, alle Freunde der zwar lieblosen, doch trotzdem irgendwie leidenschaftlichen „Fickerei“ haben garantiert nie in ihrem Leben „Sonnenzeichen – Feuerzeichen“ von ANYONE'S DAUGHTER gehört und erkannt: Es geht auch anders!
„In Blau“ ist nicht nur der Höhepunkt und das zugleich beste Album, welches die schwäbischen Art-Rocker jemals aufgenommen haben. Es ist gleichermaßen auch der Höhepunkt aller deutschen symphonischen Rock-Alben. Der pure Sex für die Ohren, die pure Liebe für das Hirn und zugleich die Vereinigung von beidem. Hauptgrund dafür ist neben der musikalischen Ausrichtung, in der progressive Rockmusik und eine Vielzahl akustischer, sehr ruhiger Momente mit Melodien verbunden werden, die bereits beim ersten Hören unweigerlich hängenbleiben, ganz besonders die Hinwendung zu eigenen deutschen Texten. Ein Novum für ANYONE'S DAUGHTER, die bis dahin mit „Adonis“ (1979) und „Anyone's Daughter“ (1980) zwei Alben in englischer Sprache sowie „Piktors Verwandlungen“ (1981), ein Album mit der Vertonung einer Hermann-Hesse-Erzählung über die wahre Liebe, veröffentlicht hatten. Und dass diese AD-Lyrik eine Qualität und einen Klang aufweist, welche den deutschen Musik-Gegenspielern NOVALIS regelrecht die Tränen in die Augen treiben müssten, ist unverkennbar. Hochachtung sollte dabei besonders der Erkenntnis UWE KARPAs entgegengebracht werden, der als AD-Gitarrist die Entscheidung für die deutschen Texte folgendermaßen begründete: „Wir wollten uns gern auf Deutsch ausprobieren und nach 'Piktor' erschien uns das als stimmiger Anschluss. Dass wir damit international nicht landen konnten, nahmen wir in Kauf. Wir trafen solche Entscheidungen eben nicht als Geschäftsleute, sondern als Künstler und Idealisten“ (Das Zitat und alle weiteren Zitate sind gemeinsam mit allen „In Blau“-Texten im Booklet zur CD nachzulesen!). Die größte Leistung aber vollbrachte der Bassist und Sänger HARALD BARETH, der diese anspruchsvolle und bildhafte Lyrik verfasste und feststellte: „Ich fand es zunehmend absurd, mit dem Wörterbuch auf dem Schoß zu schreiben. Es gab damals durchaus gute deutschsprachige Texte in der Rockmusik.“ Außerdem treten ANYONE'S DAUGHTER genau mit diesen beachtenswerten Einstellungen und deren fast perfekten Umsetzung allen intoleranten Prog-Rock-Kleingeistern in ihren zarten, breitgesessenen Popo, aus dem noch immer dieser dauerhafte Furz entweicht, welcher solch arroganten „Prog-Rock-funktioniert-nur-mit-englischen-Texten“-Gestank verbreitet.
„In Blau“ ist am Ende ein Album mit erkennbarem Konzept geworden, ohne auch nur mit einem Wort den Anspruch zu erheben, ein „Konzept-Album“ zu sein. Klingt komisch, ist aber ganz einfach aufzulösen. Der Mensch und die Natur gehen in den Texten eine Verbindung ein, so wie Sonne und Mond oder Hell und Dunkel zusammengehören, gehören auch Kindheit und Erwachsensein, Liebe, Leben und Tod zusammen. Vielleicht übertreibe ich ja in diesem Moment ein wenig, aber wer dieses Album so oft wie ich gehört hat, findet sicher irgendwann diesen „roten Faden“, der im ersten Titel mit Liebe, Sexualität und Zeugung spielt, im zweiten das „kleine Mädchen“ als Ergebnis der sexuellen Vereinigung vorstellt, bei „Nichts für mich“ mit der später als unglücklich erkannten Liebe abrechnet, während „Nach diesem Tag“ die Suche nach einer neuen Liebe zum Ausdruck bringt, die auf „Sonne“ gefunden wird, um dann am Ende in „Tanz und Tod“ für immer zu verglühen, weil dieser schwarze Sensenmann der wohl einzige ist, dem man nicht entkommen kann, egal wie viel Glück oder Unglück, Schuld oder Unschuld man im Laufe seines Lebens angehäuft hat, denn: „Mein eigener Tod ging unentwegt links neben mir / wie seltsam – ich hab' ihn nie gegrüßt / Mein ganzes Leben hat er still mit mir geführt / Und ich warte, dass er mich heut' berührt.“ Übrigens basiert genau dieser Text von „Tanz und Tod“, dem musikalischen Höhepunkt dieses an musikalischen Höhepunkten reichen Albums, auf dem tiefen Eindruck, den das Buch 'Reise nach Ixtlan' von Carlos Castaneda bei Bareth hinterlassen hatte.
„In Blau“ ist neben seiner textlichen Ausnahmestellung aber zugleich auch ein wahres Musik-Kunstwerk geworden, das den Hörer gefangen nimmt, in seinen Bann zieht. Wir dürfen darin trauern, leiden, glücklich und beschwingt oder auch mal wütend sein – wir erleben zutiefst gefühlvolle Musik, die progressiv, abwechslungsreich, durchweg melodiös sowie voluminös und warm klingt. In diesem Falle wiederum trugen die Hauptverantwortung für die Kompositionen Keyboarder MATTHIAS ULMER und Gitarrist UWE KARPA, der die Grundstimmung von „In Blau“ auf die Bedeutung des „Blue“-Begriffs in der Musik bezieht, weil „Begriffe wie Melancholie und Sehnsucht, dieses Album sehr stark prägen“.
„In Blau“ enthält auch einen besonderen Kauf-Anreiz, nämlich zwei Bonus-Live-Titel aus dem Jahr 1982, die in hervorragender Klangqualität daherkommen und den Beweis erbringen, wie ANYONE'S DAUGHTER sogar auf der Bühne direkt vor den Zuhörern eine regelrechte Live-Perfektion entfalten konnten.
Wer heutzutage noch über die leider viel zu rar gewordene symphonisch Rockmusik aus Deutschland philosophiert, der kommt an „In Blau“ von ANYONE'S DAUGHTER garantiert nicht vorbei. Außer natürlich, er trägt Kondome über den Ohren und sein Herz ausschließlich unterhalb der Gürtellinie.
FAZIT I, das ich dem Booklet entnehme sowie voll und ganz unterschreiben kann: „Nicht nur bei den Fans, sondern auch unter den beteiligten Musikern genießt 'In Blau' heute einen sehr hohen Stellenwert in der Diskographie von ANYONE'S DAUGHTER. Für Uwe Karpa ist es das 'persönliche Lieblingsalbum. Es ist sehr intim, musikalisch vielseitig, unkonventionell, kompromisslos und trotz der Gegensätze in sich geschlossen und harmonisch'. Auch Harald Bareth hält 'In Blau' mittlerweile 'für eine unserer besten Produktionen. Wenn ich heute Post oder E-Mails von Fans bekomme, wird es auch regelmäßig als sehr gelungen gelobt'.“
Mein FAZIT II: Selbst wenn ich schon seit geraumer Zeit keinen Alkohol mehr trinke, werde ich dem Rausch von „In Blau“ garantiert mein Leben lang verfallen bleiben – Entzug unmöglich!
Punkte: 14/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 05.12.2012
Harald Bareth
Harald Bareth
Uwe Karpa
Matthias Ulmer
Peter Schmidt
Tempus Fugit / SPV
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23.11.2012