ARJEN ANTHONY LUCASSEN Solo. Das klingt gleichzeitig so unwahrscheinlich wie stringent logisch. Denn auch wenn der niederländische Multiinstrumentalist und Kreativgigant bei seinen Monumental-Epen von AYREON oder STAR ONE stets eine ganze Heerschar an Musikern und Sängern antreten ließ, so hatte er am Ende doch die musikalische Alleinherrschaft. Und so ist die Motivation Lucassens, ein wirkliches Solo-Album zu machen, nur zu gut nachvollziehbar: Egoismus. Einmal nicht der Erwartungshaltung der Fans entsprechen müssen, einmal nicht der Knute des Terminplans Dutzender anderer Musiker gehorchen zu müssen. Und: Einmal ein komplettes Album selber einsingen, ohne irgendeinen bekannten Mikrofon-Meister auf dem Album-Sticker vermerken lassen zu müssen.
Kann das gut gehen? Nach dem ersten Durchgang war die Antwort überdeutlich: Nein. Im Nachhinein ist der Grund klar, warum „Lost In The New Real“ – natürlich ein Konzept-Album, natürlich zwei CDs lang – nicht auf Anhieb zündete: Falsche Erwartungen: Lucassen Solo. Nein, nicht AYREON, nicht STAR ONE. Als das wirklich verinnerlicht war, begannen nach und nach die Songs Wirkung zu zeigen. Und spätestens nach dem zehnten Hördurchgang war klar: „Lost In The New Real“ ist das mutigste Album, das der Niederländer jemals aufgenommen hat. Und mit Sicherheit auch eines seiner besten.
Inhaltlich geht es auf „Lost In The New Real“ um die Wirren der modernen, von Computern und Internet dominierten Welt. Zusammengehalten wird das Album von der Stimme Rutger Hauers, den Lucassen als Sprecher engagieren konnte. Wie auch musikalisch gibt es ebenso bei den Texten – trotz des konzeptionellen roten Fadens – keinerlei Barrieren. Ernste Themen stehen neben augenzwinkernden oder auch albernen Texten. Das Textblatt verspricht jedenfalls interessante Stunden unter dem Kopfhörer.
Das gilt erst recht für die Musik. Da Lucassen keinerlei Grenzen im Kopf hatte, gibt es den stilistischen Overkill. Der Niederländer wühlt ganz tief der Musikhistorie – ein Songtitel wie „Pink Beatles In A Purple Zeppelin“ spricht da schon seht gut Bände –, gewährt intime Einblicke in seine musikalischen Wurzeln. Rock, Metal, Pop, Folk, Industrial – es ist alles dabei, es ist alles erlaubt. Und es ist (fast) alles gut. „Lost In The New Real“ klingt mal sinfonisch, mal straight, mal bombastisch, mal basisch. Dabei sind die beiden CDs getrennt voneinander konsumierbar. CD 1 enthält die eigentliche Geschichte, auf CD 2 gibt es vor allen Dingen Cover-Versionen, die auf irgendeine Art und Weise Bezug zur Story haben – dass die Eigenkompositionen nicht auf die erste CD gepasst hätten (so wie behauptet), ist allerdings angesichts der 47 Minuten, die CD 1 dauert, nicht nachvollziehbar.
Natürlich gibt es genügend Passagen, die auch auf AYREON-Alben gepasst hätten, da wird der Niederländer nicht aus seiner Haut können. Doch insgesamt bietet sein Solo-Album so unendlich viel mehr als seine bisherigen Produktionen. Eines ist klar: Bei 20 Songs kann es nicht 20 Volltreffer geben. So sind für den Rezensenten beispielsweise „Don’t Switch Me Off“ (zu sehr auf modere Loungemusik getrimmt) oder das Zappa-Cover „I’m The Slime“ regelmäßige Skipkandidaten. Dafür gibt es auf der anderen Seite zahllose Songs, an denen man sich nicht satt hören kann. Das bereits erwähnte „Pink Beatles In A Purple Zeppelin“, das selbstironisch-lässige „When I’m A Hundred Sixty-Four“, das treibende „E-Police“, der mächtige Beatles-trifft-Breitwandkino-Song „Dr. Slumber’s Eternity Home“, das nicht minder epische „Yellowstone Memorial Day“ mit massiven David-Bowie-Referenzen oder die zehn Minuten dauernde Achterbahnfahrt des Titeltracks – um nur einige wenige zu benennen. Die Liste ist in der Tat an dieser Stelle eigentlich noch nicht zu Ende, doch die Spielzeit von CD 2 ist vorbei, so langsam muss man mal wieder den ersten Silberling einlegen und bewusst zuhören. Deswegen jetzt schnell zum...
FAZIT: ARJEN ANTHONY LUCASSEN ist nicht nur ein begnadeter Songschreiber, Instrumentalist, Arrangeur und Terminkoordinator. Er ist auch ein mehr als passabler Sänger, nein, eigentlich ist er sogar ein ziemlich guter Sänger mit einer Stimme, die viele Stimmungen transportieren kann. Angesichts der musikalischen Klasse, der Selbstverständlichkeit und der Leichtfüßigkeit, mit der der Mann über sämtliche Stilbarrieren springt, um am Ende doch ein absolut homogenes Album zu präsentieren, muss man die Frage stellen: Was kann Lucassen eigentlich nicht?
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 19.04.2012
Arjen Anthony Lucassen
Arjen Anthony Lucassen
Arjen Anthony Lucassen
Arjen Anthony Lucassen
Ed Warby, Rob Snijders
Century Media
90:20
20.04.2012