BIG BIG TRAIN sind eine Band, die in den großen Metal-Magazinen bislang sträflich vernachlässigt wurde. Dabei wäre der Einstieg von Nick D'Virgilio (SPOCK'S BEARD) im Jahr 2007 wenigstens eine Randmeldung wert gewesen. Eine entscheidende Änderung in der Stilrichtung der Gruppe war damit allerdings nicht zu verzeichnen. Die beiden Initiatoren Andy Poole und Greg Spawton haben nach wie vor das Zepter in der Hand und frönten auch vor 15 Jahren schon einer Mischung aus altenglischem Stoff der Marke GENESIS, MARILLION und entspannten YES mit Einschüben moderner Progger wie THE FLOWER KINGS oder eben SPOCK'S BEARD. Auf „English Electric, Part One“ laden die Eisenbahnliebhaber zur ersten Hälfte einer Rundreise durch England. Im Sonderzug zweifelsohne, denn anders hätten die Heerscharen an Gastmusikern wohl keinen Platz gefunden.
Die Reise nimmt mit dem luftig-folkigen „Uncle Jack“ ihren ihren Anfang. Die bereits früher bei BIG BIG TRAIN verwendete Mandoline parliert munter mit Banjo und Glockenspiel. Damit liegen nicht nur Vergleiche mit GENESIS' „The Lamb Lies Down On Broadway“, sondern auch mit REM nahe. „The First Rebreather“ schlägt dann mit der Mollstrophe und einem breit angelegten Refrain mit Querflöte ganz andere Töne an. BIG BIG TRAIN zieht es hier stark gen USA, in die Nähe von Bands wie IQ und natürlich SPOCK'S BEARD.
In „Winchester From St. Gilles' Hill“ wird wieder über weite Strecken gegroovt. Hier wie auch bei „Upton Heath“ klingen BIG BIG TRAIN mit den Geigen und mehrstimmigen Arrangements wie die LIGHT HOUSE FAMILY des Prog. Wenn es auf „English Electric, Part One“ doch einmal etwas härter wird, liegt das in erster Linie an Nick D'Virgilios kraftvollem und flexiblem Spiel. Gitarren und Orgel korrumpieren allenfalls unterschwellig die Harmonieschwelgereien. „Judas Unrependant“ rockt dann mal zur Abwechslung richtig flott, setzt sich mit seinem Schunkelrefrain schnell im Ohr fest und handelt vom Bildfälscher Tom Keating. Der Siebeneinhalbminüter hat außerdem einen majestätisch-verspielten Zwischenteil mit Pauken und Trompeten zu bieten.
Im folgenden „Summoned By Bells“ wird es dann noch deutlicher: Die akustischen Instrumente sind der große Schatz, den dieses Album birgt. Mit überbordender Kreativität und grandiosen Arrangements füllen sie das Album mit Leben und Wärme. Sie sind omnipräsent, mit eigenständigen Linien versehen und deshalb kein eintöniger Teppich, sondern harmonisch-melodischer Wandbehang, der immer wieder nach vorne schwingt, um die Stücke prachtvoll auszuschmücken. Ich wage gar zu behaupten, dass Flöte, Geige und Co. noch nie besser auf einem Progalbum integriert wurden.
So lässt „Summoned By Bells“ staunen, wie es damals wohl der Anblick der ersten Eisenbahnen vermochte. Wie viele Welten doch in einem zehnminütigen Trip bereist werden können! Wunderbare Eröffnungsharmonien mit Tiefgang werden von Streichern in die Lüfte gezogen, der Refrain greift die Leichtigkeit auf und schwebt zum Jazz weiter, bevor der beinahe Phil Collins-Nachfolger David Longdon ein waschechtes GENESIS-Hook raushaut und BIG BIG TRAIN auf Höchstgeschwindigkeit beschleunigt. Spätestens mit der völlig jenseitigen Cool Jazz-Paraphrase vom Schlage eines Miles Davis oder Eberhard Weber wird es sich auch der letzte Musikfan nach Drücken der Repeat-Taste für zwei Wochen im Lautsprecher seiner Stereoanlage gemütlich machen.
Die anschließende Folkballade „Upton Heath“ ist mir mit Akkordeon, Mandoline und hauchigen Chören etwas zu süß (aber keineswegs schlecht) geraten, mit „A Boy In Darkness“ wechseln die Briten vom Speisewagen dann zurück in die 1. Klasse. Der ruhige Beginn mit STING-Vibes mündet einmal mehr in einen Breitwand-Refrain, der holographisch mal in Dur, mal in Moll funkelt. Dann stellt Keyboarder Andy Tillison das Signal mit drei Akkorden aus der Schweineorgel auf grün und der BIG BIG TRAIN saust durch einen JETHRO TULL meets GENESIS-Zwischenteil, dass die Funken sprühen. Wer da lieber Auto fährt, dem ist nicht mehr zu helfen!
Die vorerst letzte Station ist „Hedgerow“, ein mehrstimmiger, entspannt groovender „Das war ein guter Tag“-Song zwischen GENESIS, SPOCK'S BEARD und THE BEATLES (die Trompete!). Das Geigensolo in der Mitte ist nur eine weitere der vielen inklusiven Serviceleistungen bei BIG BIG TRAIN. Auch ohne wäre das schon eine wunderschöne Fahrt gewesen.
FAZIT: BIG BIG TRAIN ist mit „English Electric, Part One“ ein weiteres großartiges Progalbum gelungen, das etwas softer als seine Vorgänger ausgefallen ist. Durch die perfekte Einbindung von Streichern und Bläsern überstrahlt dieses neue Opus den Backkatalog in Sachen Sound. Einsteigen und auf Teil zwei der Reise freuen!
Punkte: 13/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 05.11.2012
Andy Poole
David Longdon
Dave Gregory, Gregory Spawton
Andy Tillison
Nick D'Virgilio
Louis Philippe, Rachel Hall, Danny Manners, Abigail Trundle, Ben Godfrey, Daniel Steinhardt, Dave Desmond, Eleanor Gilchrist, Geraldine Berreen, Jan Jaap Langereis, Jon Truscott, John Storey, Lily Adams, Martin Orford, Sue Bowran, Teresa Whipple, Verity J
GEP
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17.09.2012