Lebten wir in einer gerechten Welt, würde jene andere Band aus Düsseldorf im Vorprogramm den roten Teppich ausrollen auf dem FAMILY FIVE das Stadion rocken. Doch wie das so ist mit der weltumspannenden Gerechtigkeit: Ein frommer Wunsch. Und wir wissen ja, Wünsche sind die Scherben der Gläser, die wir gestern hoffnungstrunken an die Wand hinter uns geschmissen haben. 36 dieser Scherben sind auf „Hunde wollt ihr ewig leben? – Drei dreckige Dutzend aus drei Dekaden!“ versammelt. Sie funkeln und glänzen. Verdammt – und WIE sie das tun: Remastert und perfekt zusammengestellt von Xao „Sektchef“ Seffcheque selbst. Inklusive unveröffentlichter Stücke.
„Alles was wir können, haben wir von ihnen gelernt. Was wir nicht können auch.“
Wie recht Farin („Wenn ich schon Urlaub heiße, würde ich mein Kind doch nicht Farin nennen!“ Entrüsteter Kommentar eines jungen weiblichen Fans kurz vor einem Konzerteinlass.) Urlaub doch hat. FAMILY FIVE habe den Swing, den Funk, den Blues, den Punk und eine Hölle voller Soul. Messerscharfe Bläsersätze zum Niederknien oder wildem Abtanzen, kurze präzise Akkorde an der Gitarre, aber auch Twang und Bang; was genauso für Bass und Schlagzeug gilt. Klavier und andere Tasteninstrumente finden sich sporadisch ein und sorgen für eine legere Jazz- Streetfunk-Attitüde. Große Kunst, als wäre es das Einfachste der Welt. Was auch und besonders für die Texte gilt.
"Peter Hein, der beste Texter und Raymund Chandler der Generation-Nach-Punk" (Die Zeit)
So steht’s im Presse-Info. Wir hoffen immer noch auf einen Übertragungsfehler oder schlussfolgern, dass „Raymund Chandler“ Raymonds kleiner Bruder oder ein Pseudonym Peter Heins ist. Doch es stimmt: Die Lakonik ist da, die ohne Plattheiten auskommende Gesellschaftskritik, der Witz, die Schärfe, das Gespür für das Zusammenspiel von Sprache und Rhythmus. Gut, Morde kommen kaum vor, Täter werden zwar benannt, aber nicht im Zusammenhang mit detektivischen Ermittlungen. Besser geht es kaum. BLUMFELD bedanken sich explizit, all die KANTEs, FINKs, STERNE und natürlich TOCOTONIC könnten das Dankesschreiben mit unterzeichnen. Hein übertrifft sogar seine Arbeiten für FEHLFARBEN, was er im Text von „Wo’s lang geht“ so ironisch wie treffend kommentiert („Keine Atempause, umgeschichtet wird die Macht, Dummheit ist verboten, Volksmusik wird weggelacht“).
Musik aus 22 Jahren. Keine Ermüdungserscheinungen, kein Nostalgie-Bonus der nötig ist, um jedes der Lieder from the beginning to the end hochjubeln zu müssen. Hier ist der Jubel echt und zeitlos. FAMILY FIVE brennen. Ein Feuerwerk ab. Vom Opener, der ersten beinahe zufällig entstandenen Hymne „Bring Deinen Körper auf die Party“ („Tanz dir den Arsch voll, tanz dir den Rücken krumm, tanz dir die Titten blank“ - nur echt mit waidwundem Killer-Saxophon und funky Gitarren), der wahren Düsseldorf-Fanfare „Fortuna“ (Ein Herz für jene bewundernswerten Loser, die im Augenblick neben Eintracht Frankfurt die Bundesliga rocken. Unglaublich.), dem kritischen Blick auf sich nie erfüllende Lebensentwürfe, „Stein des Anstoßes“, der hervorragenden S.Y.P.H.-Coverversion des unsterblichen „Lachleute & Nettmenschen“ und den drei 2004er Neuzugängen: „Wo’s lang geht“ (mit Mariachi-Trompete, Keyboard-Arpeggios und Wandergitarre from Hell), „Wie lange noch“ und „0190-4711“. Als wäre es noch nicht genug, Slow-Mo geht auch: Balladen mit Biss („Deckelverbot“, der Jazz-Schleicher „Du kannst dich nie entscheiden“).
„Wie lange noch“ ist mein heimlicher Höhepunkt einer höhepunktreichen Kompilation, ein Popsong für die Ewigkeit. „0190-4711“ ist die essentielle Auseinandersetzung mit jenen verbrauchten, ausgebeuteten Geschöpfen der Nacht, die dich mit Peitschenhieben zwingen wollen, sie anzurufen. Dabei nur Handlangerinnen irgendwelcher Fettärsche im Hinterzimmer sind, die arme Fettärsche vorm Fernseher dazu bewegen wollen, ihr Guthaben zu vermehren. Ich will den Chorus als Klingelton.
Am liebsten würde ich sämtliche(!) Texte der beiden CDs an diese Rezension anhängen. Und sei es, um all die Unker abzustrafen, die behaupten, Deutsch eigne sich nicht für Pop-/Rockmusik. „Hunde wollt ihr ewig leben?“ bietet 130 Minuten eine nahezu perfekte Kombination von Sprache, Stil und musikalischem Inhalt. Große Kunst. Pop.
FAZIT: Wer „Hunde wollt ihr ewig leben?“ nicht kauft, wird zwar nicht doof sterben (oder doch?), sich aber der Möglichkeit berauben, etwas zu tun, was gut für Leib, Herz, Seele und Hirn ist. Selten genug.
Das Jahr ist fast vorbei, die kommenden zwei Monate nehme ich risikoreich in Kauf. Trotz exzellenter Konkurrenz: Mein (Doppel-)Album des Jahres.
„Deutsche Popmusik: Wenn ich die Wahl habe zwischen den „Toten Hosen“, Grönemeyer und den „Ärzten“ entscheide ich mich für „Family Five“! (Lester Bangs)
Der Mann hatte wahrlich Ahnung.
Zur Ergänzung dieser Rezension empfiehlt sich das opulente Booklet der CD-Ausgabe. Besonders der Text von Peter Glaser wäre gerne von mir: „Herrgottscheiße, ist diese Musik gut. Jeder, der dieses Album nicht hat, ist arm dran.“ Immerhin nicht doof sterben. „Kunden wollt ihr ewig warten? Kaufen, hören. Wildsein, kühl und frisch, wie der Rauch von flüssigem Sauerstoff.“ Ach, Glaser, du alter Schlemihl – wer Karl Kraus im Zusammenhang mit FAMILY FIVE zitieren kann, hat sowieso recht. Peter Glaser kann.
Punkte: 14/15Erschienen auf www.musikreviews.de am 19.10.2012
Cpt´n. Nuß
Peter Hein (lv), Xaõ Seffcheque, Mecki Türk, Hatti Graeber
Xaõ Seffcheque
André Hasselmann
Mecki Türk, Hatti Graeber
Sireena Records
CD1: 69:38/CD2: 61:27
26.10.2012