Ok, ok, auf den letzten GAMMA-RAY-Studioalben war das Verhältnis zwischen Licht und Schatten ungewöhnlicherweise stark zulasten der Helligkeit ausgeprägt. Dennoch haben die Hamburger Power Metaller das Live-Luxusproblem, aus einem außerordentlich großen Fundus an Klassikern zurückgreifen zu können. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass viele großartige Songs selten bis nie zu Liveehren kommen. Vor einigen Jahren fuhren Kai Hansen und Co. schon einmal eine Tour („Skeletons In The Closet“), auf der vergessene Perlen gespielt wurden. Im vergangenen Jahr wiederholten sie dieses Abenteuer, diesmal unter dem Banner „Skeletons & Majesties“. Und wie das heutzutage so üblich ist, gibt es dazu jetzt – reichlich spät, aber immerhin überhaupt – die entsprechenden Töne und Bilder auf einer Doppel-CD oder Doppel-DVD.
Gefilmt wurde im Schweizer Kultclub Z7 in Pratteln; an der Kameraführung – zur Besprechung lag die DVD vor - und dem Sound gibt es überhaupt nichts auszusetzen, die Schnitte sind abwechslungsreich, aber nicht zu hektisch ausgefallen. Einziger Kritikpunkt: Das Publikum in Pratteln wirkt ein wenig lethargisch, kommt nur selten aus sich heraus. So verhallt manche Ansage von Bandleader Kai Hansen ohne erkennbare Reaktion der Fans – und das, obwohl das Z7 prall gefüllt war beim Auftritt. Auch während der Songs würde man sich ein wenig mehr Euphorie der Anwesenden wünschen – so, wie beim Auftritt in der Bochumer Zeche, der auf der zweiten DVD mit einigen Stücken vertreten ist.
Sei’s drum, alles andere passt. 18 Songs lang zeigen GAMMA RAY, dass auch die meisten Stücke aus der zweiten Reihe Garanten für mitreißende Livekracher ist. Insbesondere natürlich, wenn der mittlerweile ausgestiegene Drummer Daniel Zimmermann ordentlich die Double Bass tritt. Sowohl Frühwerke wie „Money“ oder „Hold Your Ground“ von „Heading For Tomorrow“ als auch neuere Songs wie „Insurrection“ funktionieren prima, obwohl lange nicht mehr oder noch gar nicht live gehört. Die akustische Umsetzung von „Rebellion In Dreamland“ und „Send Me A Sign“ ist interessant, dient als Zwischenspiel in der Mitte des Sets wohl auch zur Erholung der Musiker, ist aber deutlich unspektakulärer als die voll elektrifizierten Varianten.
Höhepunkt der DVDs sind natürlich auch die Gastauftritte von Michael Kiske. Der Sänger mit der Götterstimme, einst mit Kai Hansen bei HELLOWEEN für zahlreiche Gänsehautmomente zuständig, kommt bei „Time To Break Free“, „A While in Dreamland“ und „Future World“ auf die Bühne – und zeigt mal wieder, dass es nur ganz, ganz wenige Sänger gibt, die ihm das Wasser reichen können. „Time To Break Free“, einer eher unscheinbarer Track von „Land Of The Free“, mutiert zum Smasher mit imposanter Durchschlagskraft, bei der Piano-Ballade „A While In Dreamland“ versemmelt Kiske zwar trotz Textblatt in der Hand manchen Einsatz, nimmt das aber mit Humor und singt mit Hansen im Duett jeden Fan in den siebten Himmel. Und bei „Future World“ klingt Kiske heutzutage NOCH besser als in den HELLOWEEN-Hochzeiten Ende der 80er Jahre. Unglaublich, ist aber so.
DVD 2 bietet, wie bereits erwähnt, sechs Livestücke aus der Bochumer Zeche sowie Interviews und „Behind The Scenes“-Material, vor allen Dingen aber teils uralte TV-Interviews aus den 80er und 90er Jahren. Aus heutiger Sicht fast schon historisch zu nennen und für so manchen Schmunzler gut.
FAZIT: Lohnenswertes Package, sowohl für beinharte Fans der Rays als auch für gelegentliche Hörer. Die Hardcore-Supporter freuen sich, dass es nur wenige Überschneidung mit früheren Live-Veröffentlichungen gibt, alle anderen erfreuen sich an der hohen Qualität der Songs. Und auch Michael-Kiske-Anbeter werden sich das Teil garantiert ins Wohnzimmerregal stellen wollen.
Erschienen auf www.musikreviews.de am 03.12.2012
Dirk Schlächter
Kai Hansen, Michael Kiske
Kai Hansen, Henjo Richter
Corvin Bahn
Daniel Zimmermann
Ear Music
230:00
29.11.2012